Plan für Primärarztpflicht: Steuert Deutschland auf Versorgungsnotstand zu?
- Im Video: „Versorgungspolitischer Supergau“: Was die Regierung für Ihren Arztbesuch plant
Die schwarz-rote Bundesregierung hat sich eine Reform des Ärztesystems in Deutschland vorgenommen. Vorgesehen ist ein Primärärztesystem, bei dem Sie in der Regel zuerst zum Hausarzt gehen müssen, der Sie dann wenn notwendig an einen Facharzt weiterleitet. Für bestimmte Fälle soll es Ausnahmen von dieser Regel geben. Darf ich meinen Arzt daher nicht mehr selber aussuchen?
Solch ein System soll unnötige Arztbesuche verhindern. Deutschland liegt mit 9,6 Arztkontakten pro Jahr und Patient schon auf dem vierten Platz innerhalb der EU, hinter Spitzenreiter Südkorea (17,5), der Türkei (10) und Italien (9,7). Die neue Bundesgesundheitsministerin Nina Warken (CDU) verspricht sich vom Primärärzte-System, dass diese Zahl sinkt oder Patienten zumindest zielgeleiteter auf die Ärzte verteilt werden, die ihnen helfen können. Entsprechend würde das die Kosten des Systems senken und damit Beitragserhöhungen vermeiden.
Doch für ein solches System wäre ein gutes Netz von Hausärzten erforderlich – und daran mangelt es in Deutschland. „Unser Gesundheitswesen steuert ungebremst auf einen Versorgungsnotstand zu“, sagt etwa Klaus Reinhardt, Präsident der Bundesärztekammer, gegenüber dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND). Wie schlimm ist die Situation also wirklich – und was ließe sich dagegen tun?
So viele Hausärzte fehlen in Deutschland
Insgesamt besitzt Deutschland eine der höchsten Ärztedichten aller OECD-Staaten. Auf 1000 Einwohner kommen rund 4,5 praktizierende Ärzte. Mehr sind es in Europa nur auf Zypern, in Norwegen, Österreich und Portugal. Gleichzeitig ist die Qualität hoch. Nicht einmal ein Prozent der Patienten gab in einer Umfrage des Statistikportals Eurostat 2022 an, seinen medizinischen Bedarf aufgrund eines Mangels an Ärzten, wegen zu hoher Kosten oder zu langer Wartezeiten nicht decken zu können.
45.373 Ärzte in Deutschland arbeiteten Ende 2023 als Hausärzte. Das wäre also ein Mediziner auf rund 1800 Einwohner. Das reicht allerdings nicht. Die Bundesärztekammer schätzt, dass etwa rund 5000 zusätzliche Stellen besetzt werden müssten. Das Problem ist eine geografische Schieflage. Während Städte, besonders Großstädte, oft schon mehr Hausärzte haben als notwendig wären, sieht es gerade auf dem Land genau andersherum aus. Hinzu kommt ein Altersproblem. Rund ein Viertel aller Ärzte, nicht nur Hausärzte, sind in Deutschland älter als 60 Jahre, Bei Hausärzten sind es sogar 40 Prozent. Diese Stellen müssen in den kommenden Jahren also nachbesetzt werden – aber es mangelt am Nachwuchs.
Das Problem beginnt schon vor dem Studium
Das Problem fängt schon in jungen Jahren an. Vergangenes Jahr gab es rund 12.000 Plätze für neue Medizinstudenten an 39 deutschen Hochschulen. Dieses Jahr dürfte die Zahl in ähnlicher Größenordnung liegen. Darauf bewarben sich im Vorjahr aber fast 47.000 Studenten. Theoretisch könnte Deutschland also viel mehr Mediziner ausbilden, wenn es die Kapazitäten dafür gäbe. Das führt dazu, dass in Deutschland wesentlich weniger neue Absolventen pro Jahr die Universitäten verlassen als im EU-Durchschnitt. 2021 lag das Missverhältnis bei 12,4 Absolventen pro 100.000 Einwohner in Deutschland und 17,5 in der EU.
Langfristig könnte hier der erste Schlüssel liegen, die Lage zu bessern. Aber: Eine neue medizinische Fakultät aufzubauen, dauert rund drei bis vier Jahre. Die ersten Studenten brauchen dann rund sechs Jahre bis zum Abschluss. Erst in zehn Jahren würden also die ersten neuen Ärzte die Hochschulen verlassen. Die Zeit bis dahin könnte Deutschland mit ausländischen Fachkräften überbrücken. Von 2014 bis 2024 hat sich die Zahl von 34.706 auf 68.102 Ärzte mehr als verdoppelt. Der ehemalige Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) nannte das im Vorjahr „unethisch“, weil es bedeutet, dass Deutschland die Ausbildung von Ärzten lieber in ärmere Länder auslagere, statt sie selbst zu bezahlen. Er hatte damals den Ausbau der Fakultäten in Deutschland gefordert. Seine Nachfolgerin Warken hat sich dazu bisher nicht geäußert.
Hausarzt ist ein unbeliebter Fachzweig
Wenn ein Medizinstudent sein Studium abschließt, kann er aus 34 Spezialisierungen wählen. Hausarzt zu werden, steht dabei selten weit oben in der Beliebtheitsskala. Im vergangenen Jahr erhielten 2141 von 15.378 Ärzten laut Bundesärztekammer eine Anerkennung als Hausarzt. Das waren rund 14 Prozent aller Facharztanerkennungen. Zwar ist das eine leichte Verbesserung gegenüber den 2010er Jahren, doch schlechter als noch in den 2000er Jahren.
Das wahre Problem zeigt sich daran, wie wenig junge Ärzte tatsächlich als Allgemeinmediziner arbeiten. Die Statistik der Bundesärztekammer führt in der Altersgruppe bis 34 Jahren nur 756 der mehr als 43.000 Hausärzte, also gerade einmal 1,7 Prozent. Wenn Sie jetzt denken, dass der Anteil wahrscheinlich in allen Fachrichtungen gering ist, sei gesagt, dass dies unter 34 Fachrichtungen Platz 25 ist. Bei Augenärzten und Radiologen an der Spitze sind mehr als fünf Prozent in der jüngsten Gruppe. Bei den Unter-40-Jährigen rangiert Hausarzt auf Platz mit neun Prozent ebenfalls auf Platz 25.
Experten sehen mehrere Gründe, warum das so ist:
- Im Studium stände meist die Ausbildung im Klinikum im Vordergrund. Dort sehen die Studenten aber weniger Hausärzte denn Spezialisten verschiedener Fachrichtungen. Entsprechend nehmen Sie sich diese als Vorbild. Universitäten versuchen dies auf verschiedene Weise zu ändern. Ein Pflichtpraktikum in einer Allgemeinarztpraxis wurde mittlerweile überall eingeführt. An einigen Hochschulen gibt es Mentorprogramme, bei denen praktizierende Hausärzte gezielt Studenten betreuen. Andere haben ein Netzwerk aus Lehrpraxen aufgebaut, in denen Studenten praktische Erfahrungen sammeln können. Manche Kassenärztliche Vereinigungen wiederum bieten spezielle Stipendien für Studenten an, die Interesse am Beruf des Hausarztes mitbringen.
- Hausärzte bekommen im Vergleich zu anderen Fachrichtungen weniger Lohn. „Ein Radiologe verdient leichter viel mehr Geld als ein Hausarzt“, sagt etwa Ferdinand M. Gerlach, Professor an der Universität Frankfurt, gegenüber der Frankfurter Rundschau. Um dies zu ändern, hatte die Ampel-Regierung vergangenes Jahr noch die Entbudgetierung der Hausärzte beschlossen. Sie werden jetzt auch dann voll für Behandlungen entlohnt, wenn sie ein bestimmtes Monatsbudget überschritten haben. Zuvor wurden Leistungen dann nicht mehr voll bezahlt. Das stellt Hausärzte nicht mit anderen Fachrichtungen gleich, sorgt aber für ein höheres Gerechtigkeitsgefühl.
- Hausärzte müssen im Gegensatz zu manch anderen Fachrichtungen ein höheres finanzielles Risiko eingehen, denn eine neue Praxis will auch erst einmal ausgestattet werden. Nach einer Analyse der Deutschen Apotheker- und Ärztebank sowie des Zentralinstituts für die Kassenärztliche Versorgung kostete die Übernahme einer Hausarztpraxis in den Jahren 2022 und 2023 im Schnitt 180.000 Euro. Bei einer Neugründung sind es sogar mehr als 200.000 Euro. Hauptgrund sind die Kosten für neue Geräte und die IT in einer Praxis, aber auch steigende Immobilienpreise. Etwas günstiger wird es, wenn sich mehrere Ärzte eine Praxis teilen. „Nur Arzt sein, das reicht nicht. Sie müssen ihre Praxis auch führen und steuern können“, sagt deswegen Volker Kordes von der Deutschen Apotheker- und Ärztebank, gegenüber dem Ärzteblatt. Zwar rutschten nur 0,05 Prozent aller Hausarztpraxen in die Pleite, die Aussicht, mit Hunderttausenden Euro Schulden zu beginnen, schreckt aber eben auch viele vom Beruf ab. Die Kassenärztlichen Vereinigungen versuchen deswegen in einigen Regionen, potenziellen Kandidaten die Übernahme oder Gründung einer Hausarztpraxis mit Fördergeldern oder günstigen Krediten schmackhaft zu machen – besonders in unterversorgten, ländlichen Regionen.
Hausärzte arbeiten mehr und haben mehr Bürokratieaufwand
Rund 60 Stunden pro Monat verbringen Hausärzte mit Verwaltungsarbeit. Sie schreiben zum Beispiel Rezepte, stellen Bescheinigungen aus und formulieren Abrechnungen mit der Krankenkasse. Das entspricht rund 30 Prozent ihrer Arbeitszeit, die sowieso im Schnitt bei 50 Wochenstunden liegt. Damit liegen Hausärzte leicht über dem Durchschnitt. Niedergelassene Hausärzte aller Fachrichtungen verbringen im Schnitt 26 Prozent ihrer Arbeitszeit mit Papierkram. Die Zahlen stammen vom Hausärzteverband. Der Bundesrat hatte deswegen im vergangenen Jahr auf Initiative von Baden-Württemberg eine Entschließung beschlossen, den Dokumentationsaufwand in der Gesetzlichen Krankenversicherung spürbar zu reduzieren. Beschlossen wurde ein langer Maßnahmenkatalog. Eine solche Entschließung zeigt den gemeinsamen Willen der Bundesländer, ist aber kein Gesetz. Das müsste die neue Bundesgesundheitsministerin Warken einbringen und der Bundestag beschließen. Passiert ist in dieser Richtung aber noch nichts.
Das Landarztproblem
Wie gezeigt, besteht in Städten oft eine Überversorgung, während ländliche Gebiete zu wenig Hausärzte haben – bei in Zukunft steigenden Fallzahlen durch den demografischen Wandel sowie einer Rentenwelle bestehender Hausärzte. Eine der wichtigen Aufgaben von Politik und den Akteuren des Gesundheitssystems wäre es also, mehr Hausärzte für ländliche Regionen zu gewinnen. Dafür gibt es mehrere Projekte. Eines sind die finanziellen Unterstützungen, die oben schon erwähnt wurden – also etwa die Stipendien für Studenten, die sich dafür verpflichten, später auf dem Land als Hausarzt zu arbeiten oder spezielle Förderungen und Kredite für die Neugründung oder Übernahme einer Landarztpraxis.
Bayern, Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz, Sachsen-Anhalt und das Saarland haben in den vergangenen Jahren eine Landarztquote eingeführt. Dabei werden zwischen 4,2 und zehn Prozent der Studienplätze für Medizin für Bewerber reserviert, die sich dafür verpflichten, nach Abschluss als Hausarzt auf dem Land zu arbeiten. Die Bedingungen dafür sind je nach Bundesland unterschiedlich. In Bayern etwa gilt diese Verpflichtung für zehn Jahre, wer dagegen verstößt, muss eine drakonische Strafe von 250.000 Euro bezahlen.
Sind einzelne Änderungen genug?
„Es reicht längst nicht mehr, nur an einzelnen Zahnrädchen zu drehen“, sagt Markus Beier, Vorsitzender des Hausärzteverbandes. Notwendig sei eine grundlegende Reform des Hausärztewesens. Dies gelte gerade auch, wenn das von der Regierung geplante Primärarzt-System umgesetzt werde: „Wenn wir arbeiten wie immer, werden wir es nicht schaffen.“