Erst Hausarzt, dann Spezialist? Was Regierung für Ihren nächsten Arztbesuch plant

Bessere Patientenversorgung, kürzere Wartezeiten, entlastetes Personal in den Praxen – dafür wollen sich Union und SPD laut ihrem Koalitionsvertrag einsetzen. Gelingen soll das durch ein verbindliches Primärarztsystem. 

Es sieht vor, dass Patienten mit Beschwerden immer zuerst zum Hausarzt gehen – und nicht direkt zum Facharzt. Der Allgemeinmediziner entscheidet, ob eine Überweisung zum Spezialisten nötig ist. 

Falls ja, legt der Hausarzt gegebenenfalls Termine in einem bestimmten Zeitkorridor fest, die Kassenärztliche Vereinigung (KV) vermittelt diese Termine schließlich. Gelingt das nicht, können Patienten ambulant im Krankenhaus von einem Facharzt behandelt werden.

Ausnahmen im Primärarztsystem sollen für die Augenheilkunde und Gynäkologie gelten. Außerdem verspricht Schwarz-Rot, für chronisch kranke Menschen geeignete Lösungen zu finden – etwa „Jahresüberweisungen oder Fachinternisten als steuernder Primärarzt im Einzelfall“, heißt es im Koalitionsvertrag. 

Geteilte Meinungen zu geplantem Primärarztsystem: "In vielen Fällen braucht man keinen Facharzt"

In der Ärzteschaft lösen die Pläne der geplanten Kleinen Koalition gemischte Gefühle aus.

Hals-Nasen-Ohren-Arzt Klaus Stefan Holler aus Neutraubling hält davon nicht viel. „Weil es viele Menschen gibt, die primär Beschwerden im fachärztlichen Gebiet haben, die der Hausarzt nicht lösen kann“, sagt er zum „BR“. „Es wird umständlich, es wird teurer, es verzögert die Behandlungen.“

Hausarzt Thomas Jantsch hingegen, der seine Praxis im bayerischen Hengersberg hat, befürwortet das Primärarztsystem. „Die Leute landen dadurch, dass sie bei uns sind, auch in der Regel gleich beim richtigen Facharzt, wenn man denn einen bräuchte“, sagt er im Gespräch mit „BR“. „Und in vielen Fällen braucht man gar keinen Facharzt.“

Außerdem könnte die daraus resultierende Reduktion der Arztkontakte die Kosten senken, sagt Jantsch. Darauf hofft auch Schwarz-Rot: Bis 2028 soll das Primärarztsystem bis zu zwei Milliarden Euro einsparen.

Hausärzteverband: "Ein Primärarztsystem ist der einzig vernünftige Weg"

Auch der Hausärztinnen- und Hausärzteverband begrüßt das Vorhaben von Schwarz-Rot. Angesichts der Herausforderung, zukünftig immer mehr und ältere Patienten mit immer weniger Ressourcen zu versorgen, sei mehr Struktur im Gesundheitssystem wünschenswert. 

„Ein Primärarztsystem, wie es in vielen europäischen Ländern längst der Standard ist, ist der einzig vernünftige Weg“, sagt Nicola Buhlinger-Göpfarth, Bundesvorsitzende des Verbandes, auf Anfrage von FOCUS online. „Es bringt eine bessere Qualität bei weniger Ressourcenverschwendung.“ 

Heutzutage würden viele Patienten teils monatelang auf Facharzttermine warten. Ob sie dann auch beim richtigen Ansprechpartner sind, sei häufig Zufall. Buhlinger-Göpfarth erklärt das Problem anhand eines typischen Praxisbeispiels:

„Eine Frau, Mitte 50, leidet an starken Gelenkschmerzen. Zunächst geht sie zum Rheumatologen. Ohne Befund. Im Anschluss sucht sie die orthopädische Praxis auf, wo ebenfalls keine Diagnose gestellt wird. Erst nach diesen zwei Versuchen kommt sie zu ihrer Hausärztin, die sie seit Jahren kennt und gemeinsam mit der Patientin die Ursache findet: Wechseljahre. Die Patientin war somit länger als notwendig durch die fehlende Diagnose verunsichert. Gleichzeitig fielen zwei Facharzttermine für andere Patienten weg.“

Vorteile des Systems: ein Ansprechpartner, Vermeidung von Doppeluntersuchungen und medikamentösen Nebenwirkungen

Im Primärarztsystem würden die Hausärzte als erste Ansprechpartner gleich die Versorgung koordinieren. Die Patienten wären folglich nicht mehr gezwungen, „sich allein durch das überkomplexe Gesundheitssystem zu kämpfen“. 

„Sie können sich darauf verlassen, dass jemand den Überblick über alle Behandlungsschritte hat“, sagt die Bundesvorsitzende. Dadurch können auch unnötige Doppeluntersuchungen sowie Nebenwirkung von Medikamenten, die einander nicht vertragen, vermieden werden.

Die Vorteile des Primärarztsystems beweise auch die Hausarztzentrierte Versorgung (HZV), wo das Primärarztsystem bereits seit über 15 Jahren umgesetzt wird. Rund zehn Millionen Versicherte nehmen daran teil. 

„Zahlreiche wissenschaftliche Evaluationen belegen, dass die HZV die Versorgung verbessert und gleichzeitig Geld einspart“, sagt die Bundesvorsitzende. „Es ist gut, dass die Bundesregierung dies im Koalitionsvertrag festgehalten hat.“

Auch mit Blick auf die Fachärzte, die das Primärarztsystem entlasten würde. „Das führt dazu, dass sie mehr Zeit für Patientinnen und Patienten haben, die wirklich ihre Hilfe benötigen.“

Fachärzteverband: "Ein solcher hausärztlicher Flaschenhals wäre ein versorgungspolitischer Supergau"

Jene Kollegen sind vom Primärarztsystem allerdings nicht sonderlich überzeugt. So erklärt der Spitzenverband Fachärztinnen und Fachärzte Deutschlands in einer Stellungnahme, dass die hausärztliche Primärversorgung zu kurz greife und allein nicht zur adäquaten Versorgung der Patienten nicht geeignet sei. 

„Es ist vielmehr angesichts der enormen Zahl der heute ohne ärztliche Überweisung in die Facharztpraxen strömenden Patientinnen und Patienten schlichtweg unmöglich, dass diese ausschließlich über Hausärztinnen und Hausärzte ihren Zugang zur ärztlichen Versorgung erlangen und gesteuert werden sollen“, heißt es in der Mitteilung des Verbandes. 

Die 55.000 Hausärzte, die es in Deutschland gibt, wären mit den schätzungsweise 112 Millionen zusätzlichen Arztfällen allein aus Kapazitätsgründen überfordert. „Ein solcher hausärztlicher Flaschenhals wäre ein versorgungspolitischer Supergau.“

Der Verband spricht sich dafür aus, den Patienten in bestimmten Situationen einen direkten Zugang zum Facharzt zu ermöglichen. Konkret geht es um Personen mit

  • einer dauerhaft chronischen Erkrankung, die einer kontinuierlichen fachärztlichen Betreuung bedarf
  • einer episodenhaften Erkrankung, die einer über drei Monate hinausreichenden fachärztlichen Betreuung bedarf

In diesen Fällen sollten die Fachärzte der erste Ansprechpartner für die Patienten sein. Außerdem setzt sich der Verband dafür ein, dass Spezialisten die Entscheidungshoheit darüber haben, ob ein Patient bei einer geplanten, nicht dringenden Behandlung ins Krankenhaus eingewiesen wird.

Digitalisierung könnte Direktzugang zu Facharzt erleichtern

Weiterhin schlägt der Spitzenverband vor, dass im Zuge der Digitalisierung des Primärarztsystems auch der direkte Zugang zu den Fachärzten vereinfacht werden kann.

„Idealerweise würde jeder Patient in das Gesundheitssystem digital einchecken, notwendige Formulare und Fragen bereits digital beantworten, mit einem an SmeD (eine Software, d. Red.) angegliederten System vorevaluiert werden und dann digital der richtige Versorgungsebene einschließlich einer Terminzuweisung zugeführt werden“, heißt es in der Stellungnahme. 

„Der Katalog für den fachärztlichen Direktzugang wäre dann bereits in der elektronischen Patientenakte des Patienten oder im Erstevaluationssystem hinterlegt.“

Ende April hat der bundesweite Rollout für die elektronische Patientenakte begonnen. Sie ist eine Art digitaler Aktenordner, in dem alle wichtigen medizinischen Dokumente gebündelt sind. Wie Sie funktioniert und wovor Kritiker warnen.