Iris Brand ist Kommunikationsmanagerin bei einem der bekanntesten deutschen Startups. Sie ist gebildet, eloquent, erfolgreich. Wer mit ihr spricht, erlebt eine beeindruckend selbstbewusste Frau, die selbst spontan am Telefon klare Worte für das findet, was für viele Betroffene oft über Jahrzehnte unaussprechbar bleibt: Sie ist eines von immer mehr Opfern häuslicher Gewalt.
Mehrfach wurde sie von ihrem Ex-Partner erniedrigt, geschlagen, körperlich attackiert. Mehrfach brachte sie sein Verhalten zur Anzeige. Brands Geschichte ist kein Einzelfall, wie gerade veröffentlichte Zahlen des Bundeskriminalamts zeigen: Allein 2024 wurden 265.942 Menschen Opfer von häuslicher Gewalt – so viele wie nie zuvor.
20 Prozent mehr Häusliche Gewalt in den letzten fünf Jahren
Die meisten von ihnen sind Frauen, die Täter mehrheitlich männlich. Bei mehr als der Hälfte der Fälle geht es um Körperverletzung, seltener um Bedrohung, Stalking oder Nötigung. Insgesamt 286 Menschen starben 2024 durch Häusliche Gewalt, 191 Frauen und 95 Männer.
Die Zahl der polizeilich registrierten Opfer häuslicher Gewalt ist damit innerhalb der letzten fünf Jahre um 17,8 Prozent gestiegen. Dabei, so das Bundeskriminalamt, bildeten diese Zahlen vermutlich nur einen Teilausschnitt der Realität ab, die berühmte Spitze des Eisbergs. Denn: Häusliche Gewalt geschehe meist im Verborgenen, hinter verschlossenen Türen. Da, wo es vermeintlich am sichersten ist. Viele Taten würden aus Angst, Scham oder Abhängigkeit nicht zur Anzeige gebracht und bleiben in den Statistiken unsichtbar.
Für eine Gesellschaft, die sich selbst gern als besonders aufgeklärt und pazifistisch geriert, sind diese Zahlen beschämend. Entsprechend schwer tun wir uns, darüber zu sprechen. Und denjenigen zuzuhören, die sich überwinden und trotz Narben, die oft ein Leben lang brennen, von den Angriffen berichten. Viele Betroffene fürchten Stigmatisierung, dass ihr Umfeld seine eigene Scham über das Tabuthema auf sie projiziert und als zusätzliche Last auf ihre Schultern hebt.
Iris Brand ging mit ihrer Geschichte schon 2023 an die Öffentlichkeit
Vor zwei Jahren, im Juni 2023, entscheiden sich 45 Frauen ihre Geschichten trotzdem zu erzählen. In einer außergewöhnlichen Titelgeschichte berichten sie im FOCUS vom „Tatort Zuhause“. Iris Brand ist eine von ihnen. Sie sagt: „Häusliche Gewalt gegen Frauen ist kein Randthema, sondern zieht sich nachweislich durch alle sozialen Schichten. Trotzdem haben wir sie irgendwann einmal zur Privatsache erklärt. Die Betroffenen werden stigmatisiert und erleben oft eine Täter-Opfer-Umkehr. In anderen Ländern gehen die Menschen auf die Straße. In Deutschland bewegt sich nur dann etwas, wenn der öffentliche Druck groß ist genug wird.“
Diesen Druck organisiert Brand inzwischen nicht mehr nur als Betroffene, sondern auch als Mit-Gründerin der Plattform #DieNächste. Die Initiative setzt sich für mehr Sichtbarkeit von Gewalt gegen Frauen ein, unterstützt von diversen prominenten Stimmen aus Politik und Wirtschaft wie die frühere Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments, Silvana Koch-Mehrin, oder Unternehmerin Tijen Onaran.
"Viele Betroffene trauen sich endlich zu sprechen"
Angesichts der sogar gestiegenen Zahlen drängt sich die Frage auf: War der Mut der Frauen umsonst? Nein, findet Iris Brand. „Natürlich sind die Zahlen bestürzend“, führt sie im Gespräch mit FOCUS online aus, „und wir haben noch viel zu tun. Doch ich beobachte ein wachsendes Bewusstsein. Es wird viel mehr über Gewalt gegen Frauen gesprochen, die Sensibilität ist höher. Nach dem Artikel haben sich Hunderte Frauen bei uns gemeldet, sich bedankt, dass endlich jemand ausspricht, was täglich hundertfach in Deutschland passiert. Viele Betroffene trauen sich endlich, über ihre Erfahrungen zu sprechen, weil sie verstehen, dass sie nicht allein sind.“
Auch politisch habe sich die Situation verbessert, findet die Münchnerin. Exemplarisch nennt sie das Gewalt-Hilfe-Gesetz, das Anfang des Jahres von Bundestag und Bundesrat beschlossen worden ist und betroffenen Frauen und ihren Kindern erstmals einen bundesweit einheitlichen Rechtsanspruch auf Schutz und einen kostenfreien Zugang zu Beratungsangeboten garantiert.
Allerdings: Tatsächlich in Kraft tritt dieser Anspruch erst 2032. Viel zu spät, mahnt Brand. „Bis dahin sind statistisch hochgerechnet über eine Million weitere Frauen Opfer geworden, mehr als 1300 umgebracht worden.“ Ein Fortschritt sei es dennoch.
Aktivistinnen fordern den Tatbestand Femizid im Strafrecht
Daneben fordert die Initiative eine bessere Verzahnung von Straf- und Familienrecht sowie eine Änderung des Strafgesetzbuchs und eine Anerkennung der Tötung von Frauen als Tatbestand des Femizid. „Bislang kennt unser Strafrecht den Begriff nicht. Dabei sind Femizide brutale Realität: Fast jeden dritten Tag wird in Deutschland eine Frau von ihrem (Ex)-Partner getötet. Wer vor Gericht angibt, im Affekt oder aus Eifersucht gehandelt zu haben, kann auf mildere Strafen und zum Beispiel eine Verurteilung wegen Totschlags hoffen. Mit der Petition wollen wir erreichen, dass ein Femizid grundsätzlich als Mord gewertet wird.“ Mehr als 77.000 Menschen haben die Forderung auf der Website change.org bereits unterschrieben.
Ebenfalls dringend notwendig nennt Brand im Gespräch mit FOCUS online bessere und verpflichtende Schulungen von Menschen, die von Berufs wegen mit Opfern von Gewalt umgehen. „Es heißt immer: Bringt das zur Anzeige. Aber wenn man das tut, steht man oft allein da“, sagt sie. „Das weiß ich aus eigener Erfahrung: Viele Polizistinnen und Polizisten, Richterinnen und Richter wissen gar nicht, wie sie mit Gewaltopfern umgehen sollen. Ich wurde vor Gericht eine halbe Stunde dazu befragt, ob mein Ex-Partner nun mit der rechten oder linken Hand zugeschlagen habe. Dabei ist das im Akutfall doch völlig nebensächlich. Ich habe mir eher Gedanken gemacht habe, ob er nochmal mit dem Fuß gegen meinen Kopf tritt.“
Brand erhält für Engagement Zuspruch – und Hassnachrichten
Brands Ex-Partner ist inzwischen rechtskräftig verurteilt. Und trotzdem ist ihr Kampf gegen Gewalt an Frauen noch lange nicht zu Ende. Dass sie gemeinsam mit 44 anderen Frauen, darunter ihre Co-Gründerinnen Sarah Bora und Anna Sophie Herken, ihr Schweigen gebrochen habe und noch viel mehr Frauen eine längst überfällige Stimme gegeben habe, mache sie stolz. Trotzdem würde sie lügen, würde sie behaupten, die mediale Berichterstattung habe nur positive Folgen gehabt, fügt sie an. „Das Feedback war überwiegend positiv, auch aus meinem direkten Umfeld. Aber ich bekomme bis heute auch regelmäßig Hassnachrichten. Gestern schrieb mir ein Mann, ein paar Schläge würden mir guttun.“
Einschüchtern lässt sich die Münchnerin davon nicht. Sie will weiter laut bleiben und sichtbar machen, worüber sich die meisten nicht zu sprechen trauen – und was, anders als viele meinen, eben kein Phänomen ist, das prekären Milieus vorbehalten ist. „Ich entspreche nicht dem Klischee, das die Gesellschaft mit einem Opfer verbinden“, sagt Iris Brand. „Aber wie sieht denn bitte ein Opfer aus? Zerbrecht die Klischees! Jede kann die Nächste sein.“
Gewalt gegen Frauen: hier finden Sie Hilfe
Sollten Sie selbst oder jemand den Sie kennen von Häuslicher Gewalt betroffen sein, finden Sie hier Hilfe und Beratungsangebote:
- Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“: anonym und kostenlos rund um die Uhr erreichbar, berät telefonisch unter 116 016 oder online per Mail oder Chat, mehr Infos unter www.hilfetelefon.de
- Hilfetelefon bei sexualisierter Gewalt: anonym und kostenlos, Telefon-Sprechzeiten Montag, Mittwoch, Freitag 9-14 Uhr und Dienstag, Donnerstag 15-20 Uhr unter 0800 22 55 530, Beratung und Information online unter https://www.hilfe-portal-missbrauch.de/online-beratung
- Frauenhäuser und lokale Beratungsstellen bieten Betroffenen Schutz und Unterstützung, regionale Anlaufstellen finden Sie beim Verein Frauenhauskoordinierung und auf https://www.frauenhaus-suche.de/
- Weißer Ring: Eine Opferschutzorganisation, die Beratung für Betroffene anbietet, berät mit Hilfe von Dolmetscherinnen auch in vielen verschiedenen Sprachen, telefonisch (0116 006, täglich 7 bis 22 Uhr), vor Ort und online erreichbar, siehe https://www.weisser-ring.de/
- Telefonseelsorge: anonym, kostenfrei und 24/7 erreichbar unter 0800/1110111, 0800/1110222 und 116123
- Notruf: In akuten Gefahrenlagen und Notsituationen ist die Polizei unter 110 erreichbar.