Es beginnt schleichend: die Treppe wird anstrengender, Spaziergänge seltener, der Freundeskreis kleiner. Was harmlos wirkt, kann der Anfang einer Spirale sein, die viele im Alter in die Unselbständigkeit führt. Ende 2023 waren 5,7 Millionen Menschen in Deutschland pflegebedürftig, jeder siebte davon wurde vollstationär in Pflegeheimen betreut.
Doch es müsste nicht so kommen. Viele Pflegefälle sind vermeidbar, sagen Petra Thees und Lutz Karnauchow im Gespräch mit "Welt.de". Die Linguistin und der Psychologe sind im Vorstand einer Stiftung, die sich für eine neue Sichtweise auf die Altenpflege einsetzt. Die Stiftung ist aus ihrer Firma entstanden, mit der sie ein eigenes Pflegekonzept vermarkten. Es stellt die Genesung in den Vordergrund. Ziel des Konzepts sei es, "verlorene Fähigkeiten – wie gehen, selbstständig essen und anziehen – wiederzugewinnen". So soll Pflege nicht zur Endstation werden, sondern nur eine Zwischenstation darstellen.
Pflege neu denken: Selbständigkeit als Ziel im Alter
"Der Lebensstil zwischen 50 und 70 entscheidet, ob man ins Pflegeheim kommt", sagt Karnauchow im Interview. "Wenn man in dieser Zeit aktiv bleibt, Sport treibt, gut schläft, Stress meistert, sich vernünftig ernährt und soziale Kontakte pflegt, dann hat man große Chancen, lange selbstständig zu bleiben."
Doch gerade mit Eintritt der Rente nimmt genau das bei vielen ab. Oft fehlt eine Aufgabe, das Leben spielt sich zunehmend im Privaten ab. Auch die Erwartung daran, was Altsein bedeutet spielt dabei eine wichtige Rolle. Begriffe wie "Ruhestand" und "Lebensabend" würden eine Passivität und Endzeitstimmung mitliefern, die so nicht sein müsse, bemängeln die beiden in ihrem Buch "Alt. Fit. Selbstbestimmt – warum wir Alter ganz neu denken müssen".
Karnauchow und Thees: "Wir denken uns alt"
Darin plädieren sie deshalb für ein Umdenken, angefangen bei unserem Bild des Alterns. Das sei weitgehend negativ geprägt: "Wir erwarten mit zunehmendem Alter bei anderen, aber auch bei uns selbst, dass alles schlechter wird". Sie beschreiben eine Gesellschaft, die es für "normal und geradezu unvermeidlich" hält im Alter an Kraft und Beweglichkeit zu verlieren und allgemein weniger belastbar zu sein. Wir denken uns alt", bemängeln die Autoren.
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Bildquelle: Kohlhammer Sachbuch
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"Alt, fit, selbstbestimmt: Warum wir Alter ganz neu denken müssen" von Lutz Karnauchow und Petra Thees
Doch da können wir bewusst gegenhalten: Stars wie Mick Jagger, Jane Fonda oder Arnold Schwarzenegger würden es vormachen. Sie alle seien aktiv, in der Gesellschaft präsent und entsprechen nicht dem Bild einer klassischen "alten Person". Dafür braucht es keine große Bühne, betonen Karnauchow und Thees – sich engagieren und "im öffentlichen Leben mitmischen" können wir im Alter auch auch im Verein, einer Partei oder der Nachbarschaft.
Mit 44 und 60 Jahren macht der Körper einen Sprung
Doch auch, wenn wir uns weiterhin jung fühlen und aktiv bleiben, lässt sich nicht leugnen, dass Alterung stattfindet. Besonders in der von Karnauchow genannten Altersspanne verändert sich der Körper stark. Das hat auch eine Studie der Stanford University School of Medicine gezeigt. Die Forschenden verfolgten über mehrere Jahre die Entwicklung von Tausenden von Molekülen bei 108 Menschen im Alter von 25 bis 75 Jahren. Dabei entdeckten sie zwei große Schlüsselmomente altersbedingter Veränderungen, wie sie im Fachjournal "Nature Aging" berichten.
- Demnach beginnen sich um das 44. Lebensjahr Prozesse im Körper langfristig zu verändern. Das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen steigt langsam an. Alkohol und Fett werden nicht mehr so schnell abgebaut, Muskeln dafür umso schneller.
- Um das 60. Lebensjahr herum kommt es wieder zu signifikanten Veränderungen. Der Zuckerstoffwechsel und die Immunregulation verändern sich, auch die Nierenfunktion lässt nach.
Rehabilitation statt Pflege: Ältere sollten nicht nur versorgt werden
Wir alle altern also, ob wir wollen oder nicht. Kritisch betrachten die beiden vor allem die Phase nach Ereignissen wie einem Sturz oder einer Operation. "Jüngere bekommen nach einem Unfall aber sofort eine Top-Reha, Ältere landen dagegen im Heim, wo sie nur noch versorgt werden", sagt Thees im "Welt"-Interview.
Dadurch würden die Menschen zunehmend unselbstständiger werden. "In bester Absicht nimmt man den Älteren alles ab: Waschen, Anziehen, Essen zubereiten", ergänzt Karnauchow. Die Folge seien Muskelabbaubau und schwindende Beweglichkeit. "Viele liegen dann nur noch – und wer einmal liegt, kommt schwer wieder hoch."
Stattdessen sollte laut der beiden Buchautoren die Rehabilitation im Fokus stehen. Sie betreiben auch selbst einige Pflegeeinrichtungen in Berlin. Dort setzen sie dafür auf Bewegung. Natürlich im Rahmen des Möglichen, aber dennoch: Die Bewohner absolvieren etwa eine Stunde Training täglich, bestehend aus
- Aufstehen und Hinsetzen,
- Gleichgewichtsübungen wie auf einem Bein stehen
- oder Treppensteigen.
Bezahlt würde das aus dem Pflegesatz: "Anfangs ist das mehr Arbeit, aber bald entlastet es die Pflegekräfte", bilanziert Thees im Interview – etwa wenn die Bewohner der Pflegeeinrichtung durch das Training nach einiger Zeit wieder eigenständig aufstehen können. Viele Bewohner würden die Pflegeheime nach einiger Zeit so wieder verlassen können.
Mit diesen Sportarten bleiben Sie im Alter fit
Im Alter ist es ganz natürlich, dass die Muskelmasse zurückgeht. Etwa ab dem 40. Lebensjahr verlieren wir jährlich rund ein Prozent Muskelgewebe – diesen Prozess st bekannt als Sarkopenie. Gezieltes Krafttraining und eine eiweißreiche Ernährung können diesen Prozess nicht nur stoppen, sondern umkehren sagt FOCUS-online-Gesundheitsexperte Gerd Wirtz. Der Neurophysiologe weiß: "Um Muskelabbau zu verhindern, sind keine komplizierten Trainingspläne nötig". Er empfiehlt ein Programm aus Kniebeugen, Rudern, Liegestütze oder Unterarmstütz:
- Kniebeugen – Zwei Sätze á 8–12 Wiederholungen
- Rudern oder Klimmzüge – Drei Sätze á 10–12 Wiederholungen
- Liegestütze oder Brustpresse – Drei Sätze á 10–15 Wiederholungen
- Plank oder Beinheben – Zwei Sätze á 30–45 Sekunden
Zwischen den einzelnen Sätzen empfiehlt der Experte 60 bis 90 Sekunden Pause. "Die Fortschritte entstehen nicht über Nacht, sondern Schritt für Schritt. Doch über Wochen hinweg summieren sich kleine Leistungssteigerungen zu spürbaren und sichtbaren Veränderungen."
Auch sanfter Ausdauersport wie Joggen, Walken oder Nordic Walking sind empfehlenswert. "Durch den unebener Boden fordern Sie Ihre Balance und Muskulatur", sagt FOCUS-online-Gesundheitsexperte Sascha Bade. Der Osteopath empfiehlt außerdem Fahrradfahren: "Der runde Tritt beansprucht Beine und Po, schont aber Hüft- und Kniegelenke. Gleichzeitig trainieren Sie Herz, Lunge und Koordination."