Dramatische Lage in „Geisterstadt“ Pokrowsk – „sind nicht fähig, die Front zu stabilisieren“
Russlands Armee erhöht den Druck in der Ostukraine. Menschen in Pokrowsk sehen sich nach Ende des Ukraine-Krieges. Selenskyj mit Siegesplan auf Europa-Reise.
Kiew – Das Umland der ostukrainischen Stadt Pokrowsk ist seit Wochen Schauplatz heftiger russischer Angriffe. Eine Reportage der britischen BBC zeigt nun erneut das Ausmaß des Leids der in der Stadt verbliebenen Zivilbevölkerung und ihrer Verteidiger. Die Bergbaustadt gilt als Logistikzentrum und strategischer Schlüssel zur Kontrolle über die Teile der Region Donezk, die noch in der Hand der Ukraine sind. Dreiviertel der 60.000 Einwohner seien inzwischen geflohen. Die Stadt wurde seit Beginn des Ukraine-Krieges immer wieder Ziel von russischen Raketenangriffen auf zivile Infrastruktur.

„Wir sind nicht fähig, die Front zu stabilisieren“ – Dramatische Lage bei Pokrowsk
Es sei die „gefährlichste Front“ der Ukraine, sagte ein ukrainischer Militärarzt dem Sender in einem Feldlazarett in der Nähe der Stadt. „Wir sind nicht fähig, die Front zu stabilisieren“, sagte der Offizier. Russlands Militär würde sie ständig unter Druck setzen, weshalb das Lazarett ständig umziehe. Der Sender berichtete von Schwerstverletzten und getöteten Soldaten im Lazarett.
Die Sanitäter erzählten dem Bericht zufolge von bis zu 50 verletzten Soldaten, die sie täglich an ihrem Frontabschnitt behandelten. Wie lang dieser ist, blieb unklar. Seit dem Fall von Awdijiwka im Februar und Wuhledar im Oktober habe sich die Situation in und um Pokrowsk weiter verschärft. Am Montag (14. Oktober) berichtete das ukrainische Militär von kleineren Erfolgen bei Pokrowsk. Angaben von Kriegsparteien sind nicht unabhängig überprüfbar.
„Geisterstadt“ Pokrowsk: Verbliebene Zivilisten fordern Friedensverhandlungen mit Russland
Pokrowsk selbst wirke wie eine „Geisterstadt“. Das Leid sei riesig, der Großteil der Stadt sei ohne Strom und fließend Wasser. Seit Mitte Oktober würden die letzten 14.000 Zivilisten in der Stadt evakuiert. Die Schäden des russischen Beschusses seien überall sichtbar, die Stadt sei aber im Gegensatz etwa zu Bachmut noch nicht völlig ausgebombt.
„Ich will, dass der Krieg aufhört. Es sollte Verhandlungen geben. In den von Russland besetzten Gebieten ist sowieso nichts mehr übrig“, sagte die 50-jährige Viktoria Vasylevska. Eine andere Anwohnerin sagte dem Sender, die Angst sei allgegenwärtig und „ohne Beruhigungsmittel“, könne sie nicht mehr leben. Sie glaube, dass ihre Rente woanders nicht für die Miete reiche. Bereits vor dem Krieg herrschte in der Ukraine hohe Altersarmut.
40 Prozent der Bevölkerung wollen Ukraine-Krieg mit Verhandlungen beenden
Einige Anwohner stimmten demnach in die Forderung nach Verhandlungen mit Russland ein. Einer Umfrage der ukrainischen Denkfabrik Rasumkow-Zentrum zufolge, sprachen sich im Juni 40 Prozent der befragten Ukrainerinnen und Ukrainer für Friedensverhandlungen aus. Entlang der Frontlinie seien etwa 30 Prozent für Verhandlungen, ein Drittel dagegen sowie ein Drittel unentschlossen.
Meine news
Mehr als 80 Prozent der Befragten seien allerdings klar gegen die von Russland geforderten Gebietsabtretungen. Russlands Präsident Wladimir Putin verlangte als Bedingung für Friedensverhandlungen, dass die Ukraine die 2014 annektierte Halbinsel Krim und die Oblasten Donezk, Luhansk, Saporischja und Cherson aufgebe. Das wäre etwa ein Fünftel des ukrainischen Territoriums.
Selenskyj hüllt sich zu „Siegesplan“ in Schweigen – Friedensgipfel mit Russland verschoben
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj reiste Anfang Oktober durch seine westlichen Partnerländer, um seinen sogenannten „Siegesplan“ vorzustellen, mit dem er vollmundig ankündigte, den Krieg noch im Laufe des Jahres beenden zu können. Gleichzeitig verlangte er immer wieder die Freigabe für den Einsatz reichweitenstarker Waffen aus dem Westen innerhalb Russlands. Bislang ist weitgehend unklar, was Selenskyjs Plan beinhaltet.
Seit Herbst 2022 machte Selenskyjs Regierung den vollständigen Abzug Russlands zur Bedingung für Friedensverhandlungen. Nach dem Friedensgipfel in der Schweiz im Sommer 2024 sollte ursprünglich ein weiterer Friedensgipfel im November stattfinden. Dieser wurde Anfang Oktober, ukrainischen Regierungsgaben zufolge, verschoben. Laut den Vereinten Nationen begehen Russlands Truppen seit 2022 schwere Kriegsverbrechen in den besetzen Gebieten. (kb)