Jeder 4. schwört auf "Schlaf-Wundermittel": Die Wahrheit über Melatonin

Deutschland hat ein Schlafproblem. Mehr als die Hälfte der Erwachsenen hierzulande leidet laut einer repräsentativen Umfrage der Krankenkasse Pronova BKK unter Schlafmangel. Häufig liegt dem eine Schlafstörung zugrunde – etwa fünf Millionen Menschen sind allein in Deutschland von einer solchen Insomnie betroffen. Sie können ohne ersichtlichen Grund – etwa laute Geräusche oder Koffeingenuss – schlecht ein- oder durchschlafen, am nächsten Tag kämpfen sie folglich häufig mit

Kein Wunder, dass viele auf schlaffördernde Mitteln bauen. Laut der Umfrage greifen 39 Prozent der Menschen in Deutschland zu Medikamenten und anderen Hilfsmitteln. Allen voran Phytopharmaka und Nahrungsergänzungsmittel, die rezeptfrei in Apotheken, Drogerien und Supermärkten erhältlich sind. Fast genauso beliebt ist Melatonin. Ob als Spray, Tablette, Gummibärchen oder Strip zum auf die Zunge legen. Doch was bringt das wirklich?

Melatonin ist das bekannteste Schlafhormon

Melatonin ist ein hormoneller Botenstoff. Im Normalfall stellt ihn der Körper selbst her und zwar direkt im Gehirn. Dort reguliert die Zirbeldrüse unseren Schlaf-Wach-Rhytmus, indem sie das Hormon Melatonin produziert. Einmal im Blutkreislauf angekommen sorgt es dafür, dass unser Energieverbrauch herunterfährt. Körpertemperatur und Blutdruck sinken, wir schlafen besser ein.

Wann die Zirbeldrüse wieviel von dem Hormon produziert und ausschüttet, beeinflusst maßgeblich die Tageszeit – genauer das Licht. Die Information darüber, ob es draußen hell oder dunkel ist steuert die sogenannte "Innere Uhr". 

Vereinfacht: 

  • Dunkel: Nacht – Zwischen 21 Uhr und 8 Uhr produziert die Zirbeldrüse am meisten Melatonin. Der Spiegel erreicht seinen Höhepunkt im Normalfall um etwa drei Uhr in der Nacht.
  • Hell: Tag – am Morgen nimmt der Melatoninspiegel wieder ab, vor allem wenn Licht auf die Netzhaut trifft

Gestörter Tag-Wach-Rhythmus: Melatonin hilft bei Nachtschicht und Jetlag 

Passen unsere Schlafphasen nicht mit den natürlichen Dunkelphasen des Tages überein – etwa aufgrund verschobener Zeitzonen nach Langstreckenflügen oder Nachtschichten – kann der Rhythmus und somit auch der Melatoninhaushalt aus dem Gleichgewicht geraten. Die Folge sind Ein- und Durchschlafprobleme. In diesem Fall können melatoninhaltige Mittel durchaus Abhilfe schaffen, erläutert Ingo Fietze, Leiter des Interdisziplinären Schlafmedizinischen Zentrums and der Charité Universitätsmedizin Berlin, im Gespräch mit FOCUS online.

"Wenn der Schichtarbeiter von der Nachtschicht kommt und sich am Tag hinlegt, morgens um zehn oder um neun, dann hat er einen ganz niedrigen Melatoninspiegel. Da könnte es sein, dass Melatonin hilft, dass er wenigstens am Tage zu ein bisschen Schlaf kommt." Auch im Falle eines Jetlags könne man davon profitieren.

Tablette, Spray, Gummibärchen – was Sie bei Melatonin dringend beachten müssen

Für welches Präparat man sich entscheidet, kann dabei einen wichtigen Unterschied machen. In der Drogerie und Apotheke gibt es freiverkäuflich etwa melatoninhaltige

  • Dragees
  • Sprays
  • Gummibärchen
  • Tropfen
  • Granulat
  • Tees
  • Tabletten
  • Strips, die auf der Zunge zergehen

Die Dosierung variiert dabei stark, meist befinden sich zwischen einem und 1,8 Milligramm Melatonin in einer Portion. Zumindest laut Packung. Denn geprüft wird der Melatoningehalt nicht. Anders als Arzneimittel unterliegen die melatoninhaltigen Nahrungsergänzungsmittel keiner generellen Zulassungspflicht und werden nicht auf ihre Wirksamkeit, Sicherheit und Verträglichkeit für die Allgemeinbevölkerung geprüft. 

Fietze warnt vor "dramatischen Unterschieden". In den USA seien Fälle bekannt, bei denen der Melatoningehalt in den freiverkäuflichen Melatoninprodukten deutlich von der Angabe auf der Packung abweichen. Eine Studie stellte etwa fest, dass der tatsächliche Gehalt teils 83 Prozent weniger oder sogar 478 Prozent mehr betrug, als angegeben. "Das muss man sich mal vorstellen, das geht ja gar nicht", warnt der Schlafmediziner. Er betont: "Auf keinen Fall aus unbekannten Quellen aus dem Internet oder Ausland bestellen".

Laut Bundesinstitut für Risikobewertung seien aber auch in Deutschland unter den melatoninhaltigen Nahrungsergänzungsmitteln Produkte im Handel, "deren Melatoningehalt, bezogen auf die vom Hersteller empfohlene Tagesdosis, der üblichen Dosierung verschreibungspflichtiger melatoninhaltiger Medikamente entspricht oder diese sogar übersteigt". Ein Weingummi, welches laut Packung 1,8 Milligramm Melatonin enthält, könnte also tatsächlich wesentlich mehr enthalten.

Prof. Ingo Fietze
Ingo Fietze leitet das Interdisziplinäre Schlafmedizinische Zentrums an der Charité Universitätsmedizin Berlin. Anke Illing

Sprechen Sie mit Ihrem Arzt oder Apotheker

Bei den freiverkäuflichen Präparaten sei es laut Fietze daher am besten, sich in einer Apotheke beraten zu lassen: "Ich würde auf jeden Fall fragen: Sagen Sie mal, hier steht zwei Milligramm – sind da wirklich zwei Milligramm drin? Und kommen die auch wirklich bei mir an?" Beim Spray etwa habe er da Zweifel.

Am besten sei es daher, mit seinem behandelnden Arzt oder Ärztin zu sprechen und bei Bedarf auf die verschreibungspflichtige Variante zurückzugreifen. Denn diese unterliegen strengen Richtlinien und enthalten genau die Menge, die auch angegeben ist – meistens zwei Milligramm pro Tablette.

Erhältlich sind diese in zwei Varianten:

  • Akut-Tabletten setzen den Wirkstoff schnell frei, was hauptsächlich beim Einschlafen hilft.
  • Retard-Tabletten setzen den Wirkstoff über mehrere Stunden langsam frei, was das Durchschlafen unterstützt. 

Melatonin wirkt nur, wenn auch ein Mangel besteht

Doch Melatonin bringt nur etwas, wenn auch ein Mangel vorliegt, betont Fietze. "Also wenn jemand 30 Jahre alt ist und eine Einschlafstörung hat, dann wird Melatonin kaum helfen". Man könne in der Regel davon ausgehen, dass man als Erwachsener mit einem "normalen" Schlafrhythmus auch einen normalen Melatoninspiegel hat. Anders im Alter – ab 50 bis 55 Jahren sinkt die körpereigene Produktion kontinuierlich ab. Das kann zu Schlafstörungen beitragen.Doch herauszufinden, ob ein Melatoninmangel besteht, ist schwierig, sagt Fietze. Um aussagekräftige Ergebnisse zu erhalten, währen mehrere Messungen zwischen 20 und 24 Uhr nötig: "Man müsste alle halbe Stunde Blut abnehmen, Spucke oder Urin abgeben. Das wären acht oder zehn Proben – das ist im Moment noch zu unpraktikabel und zu teuer." Das Verfahren komme daher nur in klinischen Studien zum Einsatz und nicht im Praxisalltag.

Der Experte rät: Ausprobieren – aber richtig

Trotzdem gehört Melatonin zum Standardrepertoire des Schlafmediziners. "Wir setzen Melatonin eigentlich bei jedem Schlafgestörten initial ein, weil es ein mildes Mittel ist". In einer laufenden Studie führt Fietze mit seinem Berliner Team eine sogenannte Stufentherapie bei schwer schlafgestörten Patienten durch. Angefangen bei leichten Nahrungsergänzungsmitteln: "Wir fangen mit Tryptophan, einer Vorstufe von Melatonin an und machen dann mit Melatonin weiter. Das ist meine Politik – bevor jemand ein starkes Schlafmittel bekommt, müssen sie alle leichten und seichten Optionen ausprobieren". Bei etwa 30 Prozent der untersuchten Personen sei das bereits völlig ausreichend.

In der Studie hat das Team um Fietze festgestellt, dass etwa zehn Prozent der schwer Schlafgestörten positiv auf Melatonin reagieren. "Also es gibt offensichtlich Menschen, die auch schon in jüngeren Jahren ein Defizit haben, da hilft es wahrscheinlich", resümiert der Mediziner. Folgedaten, die noch nicht publiziert sind, würden das bestätigen.

Sein Tipp daher: ausprobieren. "Damit ich abschätzen kann, ob Melatonin wirkt, sollte man es mindestens vier bis acht Wochen hintereinander nehmen." Gibt es einen Placebo-Effekt, ist der nach etwa zwei Wochen weg, nach acht Wochen kann man dann für sich entscheiden: Das bringt etwas. Oder eben nicht. Wenn Ein- oder Durchschlafstörungen länger als drei Monate bestehen, sollte man zum Arzt gehen – spätestens nach zwölf Monaten, rät der Experte.

Nebenwirkungen sind möglich, wenn auch selten

Egal ob freiverkäuflich oder verschreibungspflichtig – die Einnahme von Melatonin kann Nebenwirkungen mit sich bringen. Häufig beobachtet werden

  • Kopfschmerzen,
  • Schläfrigkeit, verringerte Aufmerksamkeit und verlängerte Reaktionszeit,
  • Blutdruckabfall,
  • Albträume,
  • morgendliche Benommenheit
  • und Gangunsicherheit. 

In Einzelfällen kann die Einnahme von Melatonin bestimmten entzündliche Erkrankungen oder Autoimmunerkrankungen verschlimmern. Auch eine Melatonin-Unverträglichkeit sei möglich, sagt Fietze.

Woman with Insomnia. Young woman lying on bed with hand on forehead.
Schlafmangel und Schlafstörungen sind weit verbreitete Probleme, die sowohl die körperliche als auch die geistige Gesundheit erheblich beeinträchtigen können. Getty Images/Maria Korneeva

Neue Studienergebnisse lassen an Sicherheit von Melatonin zweifeln

Allgemein gilt Melatonin als sicher und gut verträglich. Anfang November 2025 horchte die Fachwelt jedoch kurz auf. Laut einer neuen Studie gehe der langfristige Gebrauch von Melatonin mit einem höheren Risiko für Herzschwäche und Tod einher. Das berichteten US-Forscher auf der Jahrestagung der American Heart Association (AHA) in New Orleans. Sie analysierten die Gesundheitsdaten von mehr als 130.000 US-Patienten und fanden, 

  • dass diejenigen, deren elektronische Gesundheitsakten auf eine langfristige Einnahme von Melatonin (zwölf Monate oder länger) hinwiesen, über einen Zeitraum von fünf Jahren ein um etwa 90 Prozent höheres Risiko für eine Herzinsuffizienz hatten und,
  • dass sie 3,5-mal häufiger wegen Herzinsuffizienz ins Krankenhaus eingeliefert wurden.
  • Auch die Sterberate sei im Vergleich zu denen, die kein Melatonin einnahmen, deutlich erhöht gewesen.

"Melatoninpräparate sind möglicherweise nicht so harmlos wie allgemein angenommen wird. Wenn sich unsere Studie bestätigt, könnte dies Auswirkungen darauf haben, wie Ärzte ihre Patienten über Schlafmittel beraten", resümiert Ekenedilichukwu Nnadi, Hauptautor der Studie. 

Fietze sieht die Studienergebnisse jedoch kritisch. Zum einen seien die Daten und damit auch wichtige Details, wie die eingenommene Dosis, noch nicht offiziell einsehbar. Zum anderen sei nicht klar, ob das Melatonin wirklich die Ursache für die Herzprobleme sei oder nicht eher die zugrundeliegende Schlafstörung. "Warum nimmt die eine Gruppe Melatonin und die andere nicht? Wahrscheinlich weil die eine noch eine milde Schlafstörung hat, während sie bei den anderen so schwerwiegend ist, dass sie verzweifelt nach Medikamenten suchen", spekuliert Fietze.

Fietze sieht sich als "Anwalt der Schlafgestörten"

Denn auch wenn der Leidensdruck von schlafgestörten Personen hoch sei, habe kaum ein Medikament in der Medizin einen so schlechten Ruf wie die Schlaftablette, bemängelt Fietze. Viele würden sie ablehnen, während sie etwa Insulin bei Diabetes oder Opioide bei Schmerzen, selbstverständlich akzeptieren. Das nutze die Industrie. "Mit dem Versprechen 'besser schlafen' lässt sich viel Geld verdienen – nicht nur mit Melatonin. Gehen Sie mal zur Möbelmesse, da verspricht jedes auch Bett den besten Schlaf". Dann fügt er hinzu: "Nichts gegen einen Matratzenwechsel, aber die Versprechen sind das Problem".

Das die Studie allerlei Negativschlagzeilen zu Melatonin produziert hat, obwohl die Ergebnisse noch nicht einmal im Detail zugänglich sind, ärgert Fietze trotzdem. "Wissen Sie, ich sehe mich immer als Anwalt der Schlafgestörten. Ich habe jetzt gleich Sprechstunde und vor meiner Tür stehen die Patienten schon Schlange", berichtet er, "und viele werden einmal mehr verunsichert sein". Schlechter Schlaf über mehr als ein Jahr erhöhe Gesundheitsrisiken. Mit "milden" Mitteln wie Melatonin vorzubeugen, sei für viele eine gute Option, die man nicht verteufeln sollte, sagt der Experte.