Ein Absatz in Lindners Papier liest sich, wie die General-Abrechnung mit Politik von Habeck und Scholz
Christian Lindners Papier zur „Wirtschaftswende“ gießt Öl ins Ampel-Feuer. Ein Absatz in dem Schreiben zeigt, wie groß die Differenzen sind. Eine kommentierende Analyse.
Berlin – Filmisch gesprochen ist in Berlin-Mitte der „High Noon“ angebrochen. Rauchende Colts beim Distanzkampf der Ampel-Regierung um die deutsche Wirtschaftspolitik. Christian Lindners Papier zur sogenannten „Wirtschaftswende“ wird bereits als „ultimative Scheidungsurkunde“ der Ampel-Koalition bezeichnet.
Und tatsächlich schließt man in der FDP ein Ende der Koalition längst nicht mehr aus. „Wenn Entscheidungen zustande kommen, dann kann es weitergehen“ – wenn nicht, „dann kann es nicht weitergehen“, so schlicht fasste es der FDP-Bundestagsabgeordnete Marcus Faber in dieser Woche im ZDF bei Markus Lanz zusammen. Und auch Christian Lindner spricht vom „Herbst der Entscheidungen“.
Lindner-Papier: Der nächste Akt im Ampel-Drama um die „Wirtschaftswende“
Aktuell wirkt es, als würden sich SPD, Grüne und FDP jeder für sich selbst auf einen großen Schlagabtausch vorbereiten. Robert Habeck wirft unabgesprochen einen milliardenschweren, schuldenfinanzierten Staatsfonds in den Raum, den der FDP-Chef als „Hammer“ bezeichnet. Dann beruft Kanzler Olaf Scholz einen Wirtschaftsgipfel mit ausgewählten Top-Unternehmen ein, lädt aber weder Wirtschafts- noch Finanzminister dazu ein. Die FDP kontert mit einem Mittelstands-Gipfel unter Ausschluss von Scholz und Habeck – und nun mit dem Lindner-Papier.
Darin legt der FDP-Chef in 18 Seiten dar, welche Maßnahmen er in der aktuellen Lage für richtig hält. Diese reichen von Rente über Bürgergeld bis zu Asylpolitik. Ein umfassendes Konzept, wie die schwächelnde deutsche Wirtschaft nun wieder auf die Beine kommen soll. Lindner schreibt selbst: „Deshalb ist eine Wirtschaftswende mit einer teilweise grundlegenden Revision politischer Leitentscheidungen erforderlich, um Schaden vom Standort Deutschland abzuwenden.“
Lindner unterscheidet in Papier „zwei Denkrichtungen“
Doch, warum schafft es die Ampel nicht, ein Problem, das ja durchaus alle als solches erkennen, mit einem geeinten Ansatz anzugehen? Der Kern liegt laut Lindners neuem Papier in den politischen Grundansätzen der verschiedenen Parteien. Besonders der Denkansatz der Grünen und der FDP wirkt von außen betrachtet oftmals unvereinbar. Christian Lindner hatte in der vergangenen Woche bereits in einem Spiegel-Interview auf verschiedene Denkansätze in der wirtschaftspolitischen Debatte hingewiesen. Diese tiefgehende Spaltung greift er auch in seinem neuen Papier auf und schreibt schon auf Seite 5 des Papiers: „In der wirtschaftspolitischen Debatte stehen sich dabei in Deutschland aktuell zwei unterschiedliche Denkrichtungen gegenüber“.
Der dann folgende Absatz in Lindners Papier zur „Wirtschaftswende“ liest sich wie eine General-Abrechnung mit der Wirtschaftspolitik von Robert Habeck und Olaf Scholz, ohne den Grünen-Minister oder den Kanzler namentlich zu nennen. Lindner nennt diesen ersten Denkansatz: „Vertikale Industriepolitik durch staatliche Feinsteuerung über kreditfinanzierte Subventionen und selektive Regulierungen“.
Lindner-Papier als Abrechnung mit Habecks und Scholz‘ Politik: „Vorrangig durch Verbote und Subventionen“
Diese Denkrichtung setze „maßgeblich auf staatliche Technologieselektion und die damit verbundene Lenkung des Ressourceneinsatzes vorrangig durch Verbote und Subventionen“, heißt es in dem Papier. Demnach solle sich die Wirtschaft bis ins kleinste Detail „an den Vorstellungen und Zukunftsideen der Politik ausrichten, die so die jeweiligen Gewinner und Verlierer festlegt“. Hier werde also die wirtschaftliche Entwicklung politischen Zielen untergeordnet. „Dieser Ansatz bestimmt zentral festgelegte ‚Transformationen‘, welche die Gesellschaft durch staatliche Lenkung durchlaufen soll“, heißt es weiter.
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Dieser Denkansatz sei „zugleich oft durch den Wunsch begleitet, bestehende Strukturen und Industrien zu konservieren und vor dem internationalen Wettbewerb abzuschirmen, beispielsweise durch einen ‚Industriestrompreis‘ oder Abwrackprämien zugunsten von E-Autos.“ Die sogenannte „vertikale Industriepolitik“ konzentriere sich dabei „traditionell“ auf größere Unternehmen. Lindner nennt Intel und Thyssen-Krupp als Beispiele. Vernachlässigt würden dagegen Mittelstand, Handwerk und „neue und junge Unternehmen“.
Neben dieser künstlichen Selektivität wirft Lindner dem Ansatz vor, „erhöhte Regulierungsdichte und Bürokratiekosten“ zu erzeugen. Dadurch schwäche man den „Wettbewerb als Innovationstreiber, da neu in den Markt eintretende, bestehende Marktpositionen bestreitende Jungunternehmen diese Regulierungs- und Bürokratiekosten nicht tragen können.“ „Umfassende (Dauer-)Subventionen“ würden den öffentlichen Haushalt zusätzlich belasten sowie die „Solidität der öffentlichen Finanzen“ gefährden. Darüber hinaus trage der Regulierungsansatz von oben nicht dem Umstand Rechnung, dass sich Technologie und Zeitgeist permanent weiterentwickeln würden. Entscheidungen seien dadurch leicht „veraltet“ und es würden „Machtstrukturen von gestern ins Morgen fortgetragen“ werden.
Lindner-Fazit: Produziert „Unsicherheit“
Das Fazit Lindners: „Im Ergebnis führt dieser Ansatz zu erhöhter wirtschaftspolitischer Unsicherheit – Unternehmen investieren opportunistisch, um von kurzfristiger Förderung zu profitieren, entwickeln ihre Strukturen aber letztlich am Markt vorbei – was zu weiteren Subventionsappellen oder gar der Gefährdung des gesamten Geschäftsmodells führt, wenn die Realität sich verändert. Andere Unternehmen warten in Hoffnung auf weitere Subventionen ab. Doch weder Opportunismus noch Attentismus stärken die Wachstumsbasis einer Volkswirtschaft nachhaltig.“
Offen greift der FDP-Politiker damit in grundsätzlicher Weise die Forderung von SPD und Grünen nach schuldenbasierten Rettungsringen für ausgewählte Großunternehmen an. In der Darstellung Lindners erinnert dieser Denkansatz böse gesagt etwas an sozialistische Planwirtschaft.
Tacheles im Lindner-Papier: „Unrealistische Ansprüche“
Dem stellt der FDP-Minister einen anderen und aus liberaler Sicht zu bevorzugenden Denkansatz entgegen: „Die marktbasierte, diskriminierungsfreie und somit technologieoffene Angebotspolitik durch umfassende Verbesserungen des Ordnungsrahmens (= Soziale Marktwirtschaft).“
Hier wird der Finanzminister mit Blick auf Pläne von SPD und Grünen dann noch deutlicher in der Wortwahl: Der erste dargestellte Ansatz stelle „unrealistische Ansprüche an die staatliche Steuerungsfähigkeit.“ Denn der Staat sei „unvermeidbar“ schlechter informiert, als Technologieexperten. Daneben verhindere jede politische Entscheidung über Technologien, „gleich ob direkt durch Verbote und Regulierung oder indirekt durch Subventionen“, dass weitere Alternativen entwickelt würden. Eine künstliche Scheuklappe bei Inventionen also. Neben den angesprochenen Regulierungskosten, würden so auch „Vermeidungskosten“ entstehen, die die Wirtschaftsdynamik schwächen würden. „Zudem stellt sich häufig im Nachhinein heraus, dass Politiker auf die falschen Industrien und Technologien setzen“, so Lindner weiter.
Lindner-Papier nennt liberales Gegenkonzept zu „staatlicher Feinsteuerung“
Das liberale Gegenkonzept: „Durch eine Verbesserung der allgemeinen ordnungspolitischen Rahmenbedingungen die Attraktivität, Wettbewerbsfähigkeit und Innovationskraft des Wirtschaftsstandorts umfassend und technologieoffen zu stärken.“ Man setze auf „Preissignale und marktliche Ressourcenlenkung, um die Effizienz der deutschen Volkswirtschaft durch bessere Investitions- und Arbeitsanreize zu verbessern und so das Produktionspotenzial zu stärken.“
Daneben setze man auf „wirtschaftspolitische Maßnahmen mit doppelter Dividende, also auf potenzialstärkende Maßnahmen, die insgesamt die öffentlichen Haushalte entlasten.“ Damit sei dieser Ansatz „kleinteiliger und ergebnisoffen“. Lindner schließt die Denkansatz-Exkursion in seinem Papier mit dem Satz: Sein Ansatz widerspreche „damit oft den Erwartungen der politischen Öffentlichkeit nach ‚schnellen Lösungen‘, einem ‚Pakt‘ oder einem ‚Masterplan‘.“ Damit schießt Lindner auch offen gegen den von Olaf Scholz in dieser Woche geforderten „Pakt der Industrie“ als Lösung für die wirtschaftlichen Probleme. Inhaltlich erzählt Lindner damit nichts wirklich Neues. Jedoch treibt er den Ampel-Kampf der Denkansätze durch seine klare Formulierung zweier sich widersprechender Konzepte auf die Spitze.
Diesen generellen Worten über die sich widersprechenden Denkansätze lässt Lindner dann einen Maßnahmen-Katalog folgen, der aus seiner Sicht nun die deutsche Wirtschaft aus der Krise hieven soll. (rist)