Warum extreme sexuelle Fantasien oft nichts mit „Mut“ zu tun haben

Sie wirkt zurückhaltend, fast unscheinbar. Ein Mauerblümchen, unauffällig gekleidet, ein bisschen rundlich, eher schüchtern und still. Sie hört lieber zu als zu reden. Kaum zu glauben, was hinter dieser Fassade steckt.

Doch das, was sie mir anvertraut, lässt mich innehalten. Sie sagt, sie bewege sich seit Jahren in der BDSM-Szene – das allein sei nicht das Problem. Sie mache sich Sorgen, weil sie immer extremere Reize brauche, um überhaupt noch Erregung zu spüren. Und weil sie dabei immer öfter ihr Leben riskiere.

Regina Heckert ist Leiterin von BeFree Tantra, Sexualberaterin, Buchautorin und Expertin für die Lust der Frau. Sie ist Teil unseres EXPERTS Circle. Die Inhalte stellen ihre persönliche Auffassung auf Basis ihrer individuellen Expertise dar.

Zwischen Hingabe und Selbstgefährdung

BDSM steht für Bondage & Discipline, Dominance & Submission, Sadism & Masochism – also Fesselung und Disziplin, Dominanz und Unterwerfung, Sadismus und Masochismus. Es handelt sich um eine sexuelle Praxis, bei der Machtgefälle, Kontrolle, Schmerz oder Fesselung spielerisch eingesetzt werden, um Erregung zu erzeugen. Entscheidend ist: In der gesunden Form von BDSM geschieht alles einvernehmlich, sicher und bewusst, nach klaren Regeln und Absprachen.

Doch genau diese Grenze, zwischen sicherem Spiel und realer Gefahr, kann verschwimmen, wenn jemand beginnt, die Kontrolle zu verlieren – nicht nur über das Geschehen, sondern über sich selbst.

Meine Klientin – nennen wir sie Claudia – schildert, dass sie sich immer häufiger mit Unbekannten verabredet, über das Internet, anonym. Vorher bittet sie eine Freundin, sie ans Bett zu fesseln – an alle vier Pfosten. Die Freundin geht dann, lässt die Haustür angelehnt. Irgendwann, so berichtet Claudia, wird ein fremder Mann eintreten. Wer das ist, was er mit ihr tun wird, weiß sie nicht.

„Dieser Moment, kurz bevor er kommt – das ist der stärkste Kick“, sagt sie.

Sie weiß, dass sie sich damit in reale Gefahr bringt. Und doch kann sie nicht aufhören. „Es ist, als müsste ich es tun, obwohl ich genau weiß, dass es verrückt ist.“

Wenn Lust mit Angst verknüpft ist

Sexuelle Erregung entsteht nicht nur aus körperlicher Stimulation, sondern auch aus psychischen und biografischen Mustern. Was wir als lustvoll empfinden, ist eng mit unseren frühen Erfahrungen von Nähe, Ohnmacht, Sicherheit oder Bedrohung verwoben.

In Claudias Fall zeigt sich ein Muster, das weit über ihre persönliche Geschichte hinausreicht. Sie kommt zu mir, weil sie spürt: Das hat eine tiefere Ursache.

Neben meiner Tätigkeit als Sexualtherapeutin arbeite ich auch mit systemischen Methoden, insbesondere mit Familienaufstellungen. Diese machen sichtbar, wie unverarbeitete Traumata aus früheren Generationen unbewusst in Nachfahren weiterwirken können.

Gemeinsam erstellen wir ein Genogramm – eine Art psychologischer Stammbaum. Wir suchen nach Ereignissen in ihrer Herkunftsfamilie, die mit Claudias paradoxem Verhalten in Verbindung stehen könnten.

Und tatsächlich taucht etwas auf:: Ihre Großmutter wurde im Zweiten Weltkrieg von einem russischen Soldaten vergewaltigt. Der Täter wurde auf frischer Tat von deutschen Soldaten ertappt und noch am Tatort vor den Augen der Oma erschossen.

Sex, Gewalt und Tod – drei Kräfte, die sich in dieser Geschichte zu einem traumatischen Knoten verbinden. Und genau diese unheilvolle Verknüpfung scheint sich Jahrzehnte später, ohne Claudias Wissen, in ihrer Sexualität zu wiederholen.

Was ist eine Familienaufstellung?

Eine Familienaufstellung ist eine psychotherapeutische Methode, bei der Menschen (oder Symbole) stellvertretend die Positionen von Familienmitgliedern einnehmen. Dadurch werden unbewusste Dynamiken, Loyalitäten und übernommene Gefühle sichtbar. Ziel ist, verborgene Verstrickungen zu erkennen und emotionale Belastungen in der Familienlinie zu lösen.

In der Aufstellung zu Claudias Geschichte wird deutlich: Sie trägt unbewusst die Gefühle ihrer Großmutter weiter – die eigene Todesangst im sexuellen Ausgeliefertsein und das Miterleben des Todes des jungen Soldaten.

Als Claudia in der Aufstellung die Position ihrer Oma einnimmt, spürt sie den Schock, die Starre, das Entsetzen. Dann den Moment, als der Täter stirbt – die Verwirrung, das Schuldgefühl und sogar das Bedauern.

Diese extremen Empfindungen ähneln verblüffend dem Zustand, den Claudia erlebt, wenn sie sich fesseln lässt, in Erwartung eines ihr unbekannten Fremden. Ihr Körper reproduziert das alte Trauma – nicht, weil sie es will, sondern weil das Nervensystem diese alte Verknüpfung noch in sich trägt: Sex bedeutet Lebensgefahr, Angst bedeutet Erregung, Ohnmacht bedeutet Nähe.

Tränen fließen, als sie in der Aufstellung erkennt, dass sie etwas lebt, das gar nicht ihr eigenes ist. Schließlich kann sie die übernommenen Gefühle symbolisch „zurückgeben“ – an die Großmutter und die Generation, zu der sie gehören.

In diesem Moment verändert sich etwas in ihr. Zum ersten Mal spürt sie, dass sie Lust und Erregung vielleicht eines Tages erleben kann, ohne dabei ihr Leben aufs Spiel setzen zu müssen.

Wenn Trauma sich als Lust tarnt

In der Sexualtherapie sprechen wir davon, dass traumatische Erlebnisse häufig im Körpergedächtnis fortbestehen. Selbst wenn ein Mensch das Trauma nicht bewusst erinnert, bleibt das Nervensystem auf bestimmte Reize geprägt. Gerade bei sexueller Gewalt oder Angst kann sich die Erregungsantwort mit der Stressreaktion verbinden – ein paradoxer, aber erklärbarer Mechanismus.

Was einst als Überlebensreaktion diente – etwa die Dissoziation oder das Erstarren bei Gefahr – kann später als sexueller „Kick“ wiederkehren. Das Gefühl, ausgeliefert zu sein, das Zittern, die Atemnot, der Adrenalinstoß – all das erinnert den Körper an den Ausnahmezustand, den er fälschlicherweise mit Lust verwechselt.

Solche Dynamiken sind keine bewusste Entscheidung, sondern tief verankerte Automatismen. Menschen wie Claudia suchen unbewusst immer wieder Situationen, in denen sie das alte Drama reinszenieren – in der Hoffnung, es diesmal selbst kontrollieren zu können. Doch jedes Mal geht es wieder um Leben und Tod.

Grenzen, Verantwortung und Heilung

BDSM kann – und das ist wichtig zu betonen – eine bereichernde, befreiende Form sexueller Begegnung sein, wenn sie auf Vertrauen, Kommunikation und gegenseitigem Respekt beruht. Viele Menschen erleben darin Selbstbestimmung, Nähe und Intensität. Doch wenn Schmerz, Ohnmacht oder Lebensgefahr nötig werden, um Erregung zu empfinden, ist Vorsicht geboten. Dann spricht vieles dafür, dass alte seelische Verletzungen die Regie übernommen haben.

In solchen Fällen geht es nicht darum, BDSM pauschal zu verurteilen, sondern darum, die eigenen inneren Beweggründe zu verstehen. Therapie, Körperarbeit oder systemische Aufstellungen können helfen, zwischen dem eigenen Begehren und übernommenem Schmerz zu unterscheiden.

Manchmal bedeutet Heilung nicht, auf Sexualität zu verzichten – sondern, sie sich neu zu erlauben: frei von Angst, frei von Scham, frei von dem alten Echo vergangener Generationen.

Das Leben fühlen, anstatt es zu riskieren

Was Claudia erlebte, steht stellvertretend für viele Menschen, die eine scheinbar riskante Sexualität leben, weil darin ein unbewusster alter Schmerz nach Ausdruck sucht. Hinter dem Bedürfnis nach Gefahr steckt oft nicht Zügellosigkeit, sondern eine tiefe, ungestillte Sehnsucht nach Lebendigkeit.

Doch wahre Lebendigkeit beginnt nicht dort, wo wir das Leben riskieren, sondern wo wir es fühlen – in seiner ganzen Tiefe, auch ohne Schmerz.

BDSM kann ein Spiel sein. Aber wenn das Spiel zur Wiederholung eines alten Schreckens wird, ist es Zeit, die Karten neu zu mischen – und zu begreifen, dass das größte Abenteuer manchmal darin liegt, sich selbst und anderen ohne Angst zu begegnen.

  • Regina Heckert

    Bildquelle: Regina Heckert

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