Liebe ohne Regeln? Wie Polyamorie und offene Beziehungen im Alltag funktionieren

„Treue bis ans Lebensende“ – für viele klingt das heute wie ein Relikt aus Omas Zeiten. Während Dating-Apps unendliche Möglichkeiten eröffnen und Patchwork längst Normalität ist, fragen sich immer mehr Paare: Muss Beziehung eigentlich immer monogam sein?

Die Antwort lautet: nein – aber einfacher wird es damit nicht. Offene Beziehungen, Polyamorie oder Beziehungsanarchie klingen nach Freiheit, Abenteuer und einem bunten Liebesleben. Doch im Alltag kollidieren diese Konzepte oft mit Eifersucht, Zeitplänen und der Sehnsucht nach Sicherheit.

So erzählt eine 34-jährige Seminarteilnehmerin: „Mein Freund und ich wollten es ausprobieren, weil wir beide das Gefühl hatten, wir verpassen etwas. In der Theorie klang es sexy – in der Praxis war es verdammt anstrengend.“ Willkommen in der Realität der neuen Liebe.

Regina Heckert ist Leiterin von BeFree Tantra, Sexualberaterin, Buchautorin und Expertin für die Lust der Frau. Sie ist Teil unseres EXPERTS Circle. Die Inhalte stellen ihre persönliche Auffassung auf Basis ihrer individuellen Expertise dar.

Offene Beziehung: Freiheit mit Gebrauchsanweisung

Die „klassische“ offene Beziehung hat oft ein klares Grundgerüst: Es gibt ein festes Paar, und beide dürfen Sex oder Affären außerhalb haben – allerdings nach Regeln. Mal gilt „Nur körperlich, keine Gefühle“, mal „Alles ist erlaubt, solange wir ehrlich sind“.

Klingt einfach, doch die Tücken liegen im Detail. Wer sagt’s wem, wann und wie viel? Darf der One-Night-Stand im Freundeskreis stattfinden oder bitte nur anonym via Tinder? Und wie viele Details über andere Liebschaften sind gut fürs eigene Wohlbefinden?

Studien zeigen: Offene Beziehungen funktionieren nur, wenn Kommunikation großgeschrieben wird. Verschweigen oder tricksen endet fast immer im Chaos. Oder wie ein Paartherapeut es ausdrückt: „Man braucht dafür mindestens so viel Ehrlichkeit wie in einer Monobeziehung – eher mehr.“

Polyamorie: Mehr als nur Sex

Polyamorie geht noch einen Schritt weiter. Hier geht es nicht nur um Sex, sondern auch um die Möglichkeit, mehrere Menschen gleichzeitig zu lieben. Wer also glaubt, dass Herz und Hirn nur einen Platz im Beziehungssofa frei haben, wird hier eines Besseren belehrt.

Das klingt romantisch – aber auch ziemlich kompliziert. Denn: Mehr Liebe bedeutet auch mehr Organisation. Ein „Polykül“ (so nennen sich manche polyamoren Netzwerke) erinnert nicht selten an einen Stundenplan. Dienstag Date mit Person A, Donnerstag Kuschelabend mit Person B, Wochenende mit der „Hauptpartnerin“.

Und dann die Gefühle: Wer glaubt, dass Eifersucht hier keinen Platz hat, irrt gewaltig. Polyamore Menschen berichten oft, dass sie lernen mussten, Eifersucht nicht als Feind, sondern als Signal zu verstehen. „Ich bin nicht eifersüchtig, weil er jemand anderen liebt, sondern weil ich mich gerade unsicher fühle“, sagt mir eine 29-Jährige, die seit vier Jahren polyamor lebt.

Beziehungsanarchie: Radikale Freiheit oder totales Chaos?

Ein besonders spannendes, aber auch radikales Modell ist die sogenannte Beziehungsanarchie. Hier gibt es keine festen Hierarchien, keine Unterscheidung zwischen „Partner“, „Affäre“ oder „Freundschaft“. Alles darf, nichts muss – die Beteiligten definieren ihre Beziehungen völlig individuell.

Klingt nach maximaler Freiheit, fühlt sich aber im Alltag oft wie ein Drahtseilakt an. Denn während die einen darin eine Befreiung von gesellschaftlichen Normen sehen, erleben andere pure Überforderung. „Es ist wie ein Menü ohne Karte – ich weiß nie genau, was ich bekomme“, sagt ein 41-jähriger Teilnehmer einer queeren Community.

Zwischen Freiheit und Sicherheit

Egal ob offen, poly oder anarchistisch – am Ende stellt sich die Frage: Passt das Modell wirklich zu mir? Viele starten aus Neugier, manche aus Frustration über Monogamie, andere, weil sie einen bewussten Gegenentwurf leben wollen. Manche verbiegen sich entgegen ihrem eigenen inneren Gefühl dem Partner zuliebe und leiden still vor sich hin.

Forschungsergebnisse zeigen: Menschen in konsensuell nicht-monogamen Beziehungen sind nicht unglücklicher als monogame Paare. Im Gegenteil – manche berichten von mehr Zufriedenheit, mehr sexueller Erfüllung und einem erweiterten sozialen Netzwerk. Aber: Das Ganze braucht Zeit, Energie und die Bereitschaft, ständig über Gefühle zu reden.

Denn egal welches Modell – Liebe bleibt Arbeit. Auch wenn sie sich in neuer Verpackung zeigt.

Fazit: Kein Modell passt allen

Monogamie ist nicht „out“ – sie ist nur nicht mehr alternativlos. Offene Beziehungen, Polyamorie und Co. sind spannende Experimente, die für manche Menschen genau das Richtige sind – und für andere der blanke Stress.

Die gute Nachricht: Wir dürfen heute wählen. Zwischen Sicherheit und Abenteuer, zwischen einem Partner fürs Leben und mehreren Lieben parallel. Oder auch zwischen Phasen, in denen das eine passt – und Phasen, in denen das andere stimmiger ist.

Vielleicht ist genau das die eigentliche Revolution: dass wir endlich selbst bestimmen dürfen, wie wir lieben wollen.

  • Regina Heckert

    Bildquelle: Regina Heckert

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