Er klettert MS-Symptomen davon

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Leidenschaft Klettern: Der Sport hilft Hans-Jürgen Braun, die Symptome seiner Krankheit in den Griff zu bekommen. © BIRGIT LANG

Wie Hans-Jürgen Braun mit Sport und Offenheit der Krankheit Multiple Sklerose angeht.

Moosen – Von einen Tag auf den anderen war alles ganz anders. Für Hans-Jürgen Braun war das der Fall. Im März 2021 erhielt der leidenschaftliche Angler und Abenteurer die Diagnose Multiple Sklerose (MS). Statt sich diesem Schicksal zu beugen, hat er Möglichkeiten gefunden, die zunehmenden Ausfallserscheinungen zu stoppen oder deren Verlauf wenigstens zu verlangsamen. So kam er zum Klettern.

„Dieses Leuchten und die Freude, die er am Klettern hat, hat mich nicht mehr losgelassen“, sagt Brigitte Emmerling, eine Freundin, die ihn nach einigen Jahren zufällig in einem Drogeriemarkt wieder getroffen hatte. Dort erzählte er ihr von seiner Krankheit und seiner neuen Leidenschaft. Das faszinierte und beschäftigte die Dorfener Autorin so sehr, dass die beiden beschlossen, miteinander ein Buch über seine Lebensgeschichte zu schreiben, um anderen Menschen damit Mut zu machen und zu helfen. Unter dem Titel „Aufgegeben wird nur ein Brief“ ist es jetzt im Fachhandel erschienen.

Beim Probetraining Blut geleckt

Die Diagnose war für den gelernten Elektriker ein Schock. „Ich ging mit leichten Problemen zum Arzt, weil mir auffiel, dass ich immer öfter unkontrollierte Bewegungen machte, mit dem Fuß aufschlug, an der Treppenstufe hängenblieb und oft kurz vor dem Hinfallen war. Auch beim Gang auf die Toilette hatte ich immer öfter Probleme, das Wasser zu halten.“ Das MRT brachte Gewissheit. Diagnostiziert wurde zudem eine seltene Variante, bei der es nicht schleichend, sondern schnell bergab geht. „Ich gehe wie betrunken. Mein Hauptproblem ist die Hüftbewegung, das heißt, dass ich irgendwann im Rollstuhl landen werde. Was ich versuche zu vermeiden.“ Er ging in Reha und absolvierte dort ein Probetraining im Klettern. Bis zur Gründung der eigenen Klettergruppe sollte es aber noch dauern.

Den Kopf in den Sand stecken und sich selbst aufgeben, war für den Vater von zwei erwachsenen Kindern keine Option. Er verkaufte sein Haus, weil ihm die Arbeit damit zu beschwerlich wurde. Dann wollte er zur Hippotherapie gehen, „das Beste, was einem passieren kann, wenn man MS hat, heißt es“. Er klapperte sechs Stellen ab, fand aber keinen Platz, also entschied er sich fürs Klettern.

Er machte ein Probetraining in Freising und in Landshut, wo es schon MS-Klettergruppen gab, in der Betroffene mit unterschiedlichen Einschränkungen trainierten. Fortan ging er alle 14 Tage dort hin und stellte schon bald erste Verbesserungen fest, die Spastiken waren weg und sein Gang wurde wieder sicherer. „Auch vom Kopf her ist es gut, als Behinderter eine 16 Meter hohe Wand zu erklimmen. Dieses Erfolgserlebnis, jeder kommt mit einem Grinsen herunter. Körperlich zerstört, aber glücklich“, erzählt er und strahlt.

Er suchte Kontakt zu Selbsthilfegruppen in Erding und Wasserburg und berichtete dort über seine Fortschritte dank des Kletterns. Dann wuchs in ihm der Wunsch, zwei Trainingstage für einen offenen Klettertreffen in der barrierefreien Kletterhalle Waldkraiburg anzubieten, die auch eine Behindertentoilette hat. Mit dem Trainer verstand er sich auf Anhieb sehr gut und er unterstützte sein Ansinnen. Also gründete Braun Mitte April 2023 eine Klettergruppe, die „MS Warriors“, als Untergruppe der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft München, die zum Landesverband Bayern gehört und „immer stärker wird“, was ihn sehr freut.

Im Buch erzählt er nicht nur vom Klettern, auch von seiner Familie, der Trennung von seiner Frau, Rückschlägen, Fortschritten und positiven Erlebnissen mit und durch seine Krankheit. Der 53-Jährige informiert über körperliche, seelische und kognitive Symptome der Erkrankung, erläutert Therapiemöglichkeiten und verrät, warum Kaffeetrinker seltener an MS erkranken. Er thematisiert psychische Belastungen, die sich negativ auswirken oder die entspannende Wirkung von Alkohol – ein zweischneidiges Schwert.

Das Buch liest sich leicht und ist informativ für Betroffene und Interessierte. Braun bezeichnet sich als „lebende Litfasssäule“. Denn er gibt gerne Auskunft über seine dreijährigen MS-Erfahrungen und sein umfangreiches Wissen, das er sich in dieser Zeit angeeignet hat. Und seien es nur so scheinbar banale Dinge wie die Euro-WC-Schlüssel oder LOCUS, das aktuelle Behindertentoilettenverzeichnis mit 12 000 Standorten, die für an MS erkrankten Menschen unwahrscheinlich wichtig sind. Auch Ratschläge auf gezielte Fragen gibt er gerne. „Ich will Betroffenen helfen und ihnen Mut machen.“ Mit diesem Buch gelingt ihm das bestens. Dabei erklärt er auch, wie wichtig gute Freunde sind, denn diese Erfahrung hat er selbst gemacht. Und er empfiehlt Selbsthilfegruppen. „Dabei geht es nicht immer nur um die Krankheit, sondern oft ist es einfach ein nettes Essengehen unter Gleichgesinnten.“

Schreiben des Buches war herausfordernd

„Es geht darum, Mut zu haben, Neues zu machen, zu lernen, die Krankheit anzunehmen und das Beste daraus zu machen“, sagt die 65-jährige Emmerling. Das Schreiben des Buches war für sie eine Herausforderung, gibt sie zu. „Wir kommunizierten auf allen Kanälen, per Telefon, Sprachnachricht und trafen uns immer wieder. So ging das Schreiben recht flott.“ Anschließend musste sie alles sortieren. Ein Jahr später hielten die beiden ihr Gemeinschaftswerk in Händen. Anfangs dachte er sich: „Cool, wie viele Dorfener gibt es, über die ein Buch geschrieben wird“. Dass Braun jetzt von Fremden erkannt und vielleicht sogar angesprochen wird, schreckt ihn nicht. „Ich habe in dem Buch die Hos‘n runtergelassen, über die Krankheit“. Aber offen mit der Krankheit umzugehen, sei wichtig und dieses Buch zu schreiben „hat total Spaß gemacht“.

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