Darum riskieren Menschen ihr Leben fürs Bergsteigen – und so werden sie zur Gefahr
Eine hundertprozentige Sicherheit im Leben gibt es nicht. Nur eins ist gewiss: der Tod.
Das wusste auch Ex-Biathletin und Bergsteigerin Laura Dahlmeier. Umso mehr, da sie teils enorm schwierige Touren unternahm, große und steile Berge erklomm, bei Regen und Schnee. Über die Gefahren war sich die staatliche geprüfte Bergführerin stets im Klaren, tödliche Unfälle in ihrem Umfeld regten sie zum Nachdenken an.
"Es kann einfach jeden Moment vorbei sein"
Ihrer großen Leidenschaft konnte Dahlmeier dennoch niemals abschwören. Am 28. Juli kostete Dahlmeier ihr geliebtes Hobby das Leben. Bei einer Bergtour am Laila Peak im Karakorum-Gebirge in Pakistan wurde sie von einem Steinschlag tödlich getroffen.
Dass einige Menschen für diese risikoreiche Sportart ihr Leben aufs Spiel setzen, ist manchem unbegreiflich. Warum nimmt man die Gefahren in Kauf? Was für ein Reiz geht von diesem Hobby aus? Bergsteiger und Expeditionsleiter Steve Kröger gibt im Gespräch mit FOCUS online Einblick in die Welt dieses Extremsports.
FOCUS online: Seit wann sind Sie Bergsteiger? Was hat Sie zu diesem Hobby bewegt?
Steve Kröger: Ich komme aus Hamburg – vom flachen Land – und kannte Berge ursprünglich nur aus dem Fernsehen. Doch schon als Kind hatte ich den Traum, eines Tages selbst auf einem Gipfel zu stehen.
Mit 30 Jahren entschied ich mich, diesen Traum nicht länger aufzuschieben. Ich nahm mir vor, sieben Jahre meines Lebens zu investieren, um die höchsten Berge aller Kontinente zu besteigen – die sogenannten 7 Summits. Damals war mein Antrieb auch die Frage: Wie weit kann ich körperlich, emotional und mental wirklich gehen?
Nehmen Sie uns einmal mit: Wie hoch waren die höchsten Berge, die Sie je bestiegen haben?
Kröger: Zu den Gipfeln, auf denen ich stand, gehören der Kilimandscharo (5896 Meter), der Elbrus (5642 Meter), der Aconcagua (6962 Meter), der Kosciuszko (2228 Meter) und der Mount Vinson (4892 Meter). Am Mount McKinley (6196 Meter) musste ich kurz vor dem Gipfel umkehren – ein mentales Tief hat mir gezeigt, dass es besser war, loszulassen.
2014 stand dann der Mount Everest (8848 Meter) auf dem Plan – der letzte der sieben. Als ich zum Khumbu-Gletscher aufblickte, spürte ich plötzlich eine innere Stimme, die sagte: "Dieses Jahr ist es zu gefährlich." Ich vertraute dieser Eingebung und drehte um.
48 Stunden später kamen an genau dieser Stelle 16 Menschen bei einem Lawinenunglück ums Leben. Dieser Moment wurde für mich zu einem Schlüsselerlebnis – und der veränderte mein Leben.
Gab es gefährliche Situationen, in denen Sie überlegt haben aufzuhören?
Kröger: Gefahr ist beim Bergsteigen immer präsent – sowohl objektiv als auch subjektiv. Objektive Gefahren sind Lawinen, Steinschlag, extreme Kälte oder Abgeschiedenheit. Sie sind oft nicht vorhersehbar. Subjektive Gefahren dagegen entstehen in uns selbst: Selbstüberschätzung, Unachtsamkeit oder ein verbissener Ehrgeiz. Dann wird man selbst zur Gefahr.
Am Aconcagua in Südamerika stieß ich aufgrund der Höhe an meine physischen und psychischen Grenzen – und ignorierte dabei meine eigenen Warnsignale. Wir starteten als zwölfköpfiges Team, doch nur drei von uns erreichten den Gipfel – ich war einer davon.
Rückblickend hat mich das erschreckt: Ich hatte meine Gesundheit hintangestellt, um mein Ziel um jeden Preis zu erreichen. Das hat mir deutlich gemacht, wie schnell eine verbissene Zielstrebigkeit zur Gefahr werden kann. Dieser Moment war wichtig, um meine Grenzen zu spüren und akzeptieren zu lernen.
Was macht den Reiz dieses Extremsports aus?
Kröger: Viele Facetten machen den Reiz aus: das Gefühl von Freiheit, die Abgeschiedenheit, die tiefe Verbundenheit mit der Natur – und mit sich selbst. Im Team entsteht ein starkes Miteinander, das trägt und verbindet. Wenn die Bewegung gleichmäßig wird und der Alltag in den Hintergrund tritt, entsteht eine besondere Intensität – ein Zustand tiefer Lebendigkeit.
Manchmal wird dieser Moment sogar zu einer spirituellen Erfahrung: eine stille Begegnung mit etwas, das größer ist als man selbst.
Was ist das für ein Gefühl, auf einem Gipfel zu stehen?
Kröger: Wahrscheinlich erlebt das jeder anders. Für mich lagen die besonderen Momente nicht auf dem Gipfel selbst, sondern irgendwo unterwegs. Oft war es ein stiller, spiritueller Moment – geprägt von Klarheit, Dankbarkeit und Demut.
Gerade in der Abgeschiedenheit der Berge wird mir bewusst, wie klein wir eigentlich sind – und wie unwichtig vieles ist, was uns im Alltag so beschäftigt.
Um ehrlich zu sein: Auf den Gipfeln habe ich nicht das gefunden, was ich dort zu finden hoffte. Ich dachte immer, dass ich dort Glück erleben würde – und mein Leben dann irgendwie besser wäre. Aber so war es nicht.
Mich persönlich führte der Weg über die höchsten Berge unserer Kontinente vielmehr zu einer anderen Frage: Was kommt nach dem Gipfel? Und was gibt meinem Leben – jenseits des Erfolgs – eigentlich Sinn?
Sind Bergsteiger Adrenalinjunkies?
Kröger: Manche vielleicht – aber das gilt auch für Menschen, die im Beruf immer höher hinauswollen. Adrenalin gibt uns das Gefühl, lebendig zu sein. Und das hat ja definitiv was Positives.
Bedenklich wird es nur dann, wenn man davon abhängig wird – wenn es nichts anderes mehr gibt, was dem Leben Tiefe, Bedeutung und eine tragende Orientierung verleiht.
Ist das ein bestimmter Typ Mensch, der dieses Hobby ausübt?
Kröger: Ich würde sagen: Menschen, die sich gern selbst herausfordern. Die bereit sind, auf Komfort zu verzichten, um etwas Tieferes zu erleben. Unter Bergsteigern findet man nicht nur Draufgänger, sondern auch Suchende, Denker und stille Genießer. Was sie trotz aller Unterschiede verbindet, ist vermutlich die Sehnsucht nach Abenteuer.
Warum geht man ein so hohes Risiko ein?
Kröger: Bei all meinen Abenteuern habe ich die innere Haltung: Herausforderungen sollen im Einklang mit meinen Fähigkeiten stehen. Das gilt im Übrigen sowohl für den Extremsport als auch im Leben. Blindes Risiko einzugehen, kommt für mich nicht infrage.
Stattdessen bereite ich mich vor, trainiere und versuche maximal ehrlich zu reflektieren, ob ein Weitermachen verantwortbar ist – oder nicht. Es war für mich nie ein Spiel mit dem Tod, sondern ein bewusster, respektvoller Umgang mit den eigenen Grenzen.
Insofern betrachte ich das als einen kalkulierten Umgang mit dem Risiko, wie bei sehr vielen anderen Sportarten auch. Dass Leute ausgerechnet beim Bergsteigen besonders leichtfertig damit umgehen, konnte ich nicht beobachten.
Wie fühlt es sich an zu wissen, dass trotz aller Vorbereitung ein Restrisiko bleibt?
Kröger: Das ist für mich ein Bild für das ganze Leben – wir können es nicht vollständig absichern. Auch wenn wir es oft versuchen. Das Leben ist brüchig – und genau darin liegt seine Tiefe. Ich glaube, einer der größten Lernprozesse im Leben ist: einen guten Umgang mit unserer eigenen Endlichkeit zu finden.
Manche Bergsteiger haben schon ein Testament oder eine Patientenverfügung verfasst. Ist das auch bei Ihnen der Fall?
Kröger: Ein Testament? Nein. Eine Patientenverfügung? Ja. Ich bin verheiratet und habe zwei Kinder im Alter von zehn und neun Jahren. Alles Wesentliche in meinem Leben ist so geregelt, dass auch ohne Testament derzeit Klarheit besteht.
Die Auseinandersetzung mit der Endlichkeit ist für mich etwas Kostbares. Das hat für mich keine Schwere, sondern schafft Raum für die Fragen: Wie gelingt ein gutes Leben? Wofür soll mein Leben später einmal stehen? Erst vor dem Hintergrund unserer Endlichkeit bekommt das Heute seinen eigentlichen Wert.
Wir alle werden irgendwann sterben – sei es beim Extremsport, durch Krankheit oder im hohen Alter. Diese Realität anzunehmen, macht mich nicht ängstlich, sondern dankbar – und immer wieder wach für die Frage: Lebe ich gerade das Leben, das ich wirklich leben möchte?
Wie gehen Ihre Angehörigen mit Ihrer Leidenschaft um?
Kröger: Meine Angehörigen vertrauen mir – in dem, was ich tue, und in dem, was ich lasse. Sie wissen und spüren, was in meinem Leben wirklich zählt. Wenn ich mir vorstelle, was einmal auf meinem Grabstein stehen soll, dann nicht: "Er hat alle Gipfel bezwungen", sondern: "Er war ein guter Ehemann, ein guter Vater, ein guter Mensch."
Ist Bergsteigen ein Hobby – oder eine Obsession?
Kröger: Für mich ist es weder bloß ein Hobby noch eine Obsession. Es ist ein Weg – ein Abenteuer – und manchmal auch ein Spiegel. Ein Ort, an dem ich Gott begegne, mir selbst näherkomme und meine eigenen Grenzen erkenne. Am Berg geht es für mich nie nur nach oben – sondern immer auch nach innen.