Deutschland verzeichnet so viele Krankmeldungen wie nie zuvor: Laut Statistischem Bundesamt waren Arbeitnehmer 2023 durchschnittlich 15,1 Arbeitstage krankgemeldet. Im Vergleich dazu lag der Tiefpunkt 2007 bei nur 8 Tagen. Die Krankenkasse DAK-Gesundheit meldet für das Jahr 2023 einen noch höheren Durchschnittswert: Mehr als die Hälfte der DAK-Versicherten erhielt im Zeitraum von Januar bis Dezember mindestens eine Krankschreibung. Laut DAK stieg die durchschnittliche Anzahl der Fehltage pro Person im gesamten Jahr auf 20.
Die wirtschaftlichen Folgen sind erheblich: Die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin schätzt die Produktionsausfälle 2023 auf 128 Milliarden Euro.
Inmitten dieser Entwicklung sorgte Allianz-Chef Oliver Bäte für Schlagzeilen. Er schlug vor, die Lohnfortzahlung ab dem ersten Krankheitstag zu streichen. FDP-Chef Christian Lindner hielt dagegen: Er plädierte für Belohnungsmodelle wie Anwesenheitsprämien. Doch können solche Anreize wirklich helfen? FOCUS online zeigt Beispiele und sagt, wie komplex die Umsetzung ist.
Bus- und Bahnbetriebe setzen auf Staffelungen
Die Hamburger Hochbahn zahlt seit mehr als 20 Jahren eine Prämie für geringe Fehlzeiten – bis zu 615,62 Euro pro Halbjahr. Die Regelung ist tariflich festgeschrieben. Ab dem dritten Krankheitstag gibt es Abzüge, ab dem 17. entfällt die Prämie. Das Unternehmen bewertet das Modell als erfolgreich, auch wenn die Krankenquote nach der Corona-Pandemie gestiegen ist, berichtet das „Manager Magazin“.
Auch die Kieler Verkehrsgesellschaft KVG zahlt bis zu 1000 Euro Prämie im Jahr. Wer in drei Monaten an keinem Tag krankheitsbedingt fehlt, erhält die volle Prämie. Wer bis zu zwei Tage krank ist, bekommt 200 Euro. Bei drei oder vier Krankheitstagen gibt es 125 Euro. Wer länger krank ist, bekommt nichts.
In Köln wird ein Bonus an gute wirtschaftliche Ergebnisse gekoppelt. Wer häufiger als der Durchschnitt zur Arbeit erscheint, kann zusätzlich profitieren.
Andere Verkehrsbetriebe wie die Düsseldorfer Rheinbahn lehnen solche Prämien ab, da sie fürchten, dass Mitarbeitende trotz Krankheit zur Arbeit kommen. Die Techniker Krankenkasse und der Deutscher Gewerkschaftsbund (DGB) teilen diese Bedenken.
Autozulieferer BIA senkte Krankenquote drastisch - Daimler stellte Maßnahme ein
Der Solinger Autozulieferer BIA kämpfte in der Fertigung mit einer hohen Ausfallquote von neun Prozent. Seit Juli 2023 zahlt das Unternehmen nun eine Anwesenheitsprämie, die Mitarbeitenden bis zu zehn Prozent mehr Lohn bringt, so die „Wirtschaftswoche“.
Die Fehlzeitenquote sank daraufhin um drei Prozentpunkte. Trotz monatlicher Kosten von 80.000 Euro rechnet sich das System, so Jörg Püttbach, Gründer und CEO der BIA Group.
Bis 2019 setzte auch Daimler auf ein ähnliches Modell. Nach Abschaffung der Regelung unterstützt das Unternehmen vielmehr bei Themen wie Gesundheitsförderung - etwa Impfungen und Coachings. Der Mercedes-Benz-Chef Ola Källenius kritisierte in einem Interview die hohe Anzahl an Krankentagen deutscher Arbeitnehmer als einen Wettbewerbsnachteil für den Wirtschaftsstandort Deutschland.
„Wenn unter gleichen Produktionsbedingungen der Krankenstand in Deutschland teils doppelt so hoch ist wie im europäischen Ausland, hat das wirtschaftliche Folgen", sagte der Spitzenmanager dem „Spiegel“.
Bei Tesla gibt es keine Prämie, sondern Hausbesuche
Für Aufsehen sorgen Berichte über das umstrittene Vorgehen von Tesla in seiner Gigafactory in Grünheide bei Berlin. Das Unternehmen, das mit hohen Krankenständen zu kämpfen hat, steht durch Maßnahmen wie unangekündigte Hausbesuche bei krankgeschriebenen Beschäftigten in der Kritik.
Nach Angaben des Werksleiters Andre Thierig waren in diesem Jahr etwa 200 Mitarbeiter der Gigafactory durchgehend krankgeschrieben und konnten daher keine Arbeitsleistung erbringen. In Spitzenzeiten soll der Krankenstand im Werk bei bis zu 15 Prozent gelegen haben – eine Zahl, die für eine Produktionsstätte von Teslas Größe erhebliche Auswirkungen auf Effizienz und Lieferzeiten hat.
Gleichzeitig setzt das Unternehmen auf strenge Personal- und Leistungskontrollen, um den Krankenstand zu reduzieren. Tesla verlangt von seinen Mitarbeitern eine hohe Flexibilität und Einsatzbereitschaft, was in einer Produktionsumgebung wie der Gigafactory zu einer enormen Belastung führen kann.
Kritiker, darunter die Gewerkschaft IG Metall, sehen die Ursache für die hohen Fehlzeiten jedoch weniger in mutmaßlichem Fehlverhalten der Arbeitnehmer, sondern vielmehr in den Arbeitsbedingungen im Werk.
Tesla weist diese Vorwürfe zurück und betont, dass man stets im Rahmen des Gesetzes handele und daran arbeite, die Arbeitsbedingungen zu verbessern.
Hoher Krankenstand auch in der Pflege - Asklepios-Klinik setzt auf Anwesenheitsprämie
Im Durchschnitt fehlen Pflegekräfte 22,4 Tage pro Jahr. Kliniken wie die Hamburger Asklepios-Gruppe diskutierten 2024 über die Einführung von Anwesenheitsprämien.
Gewerkschaften wie Verdi lehnen das Modell vehement ab. „Asklepios fordert von den Beschäftigten langfristig massive Reallohnverluste und will zugleich Beschäftigte bestrafen, die krank werden. Dieses Arbeitgeberangebot ist völlig aus der Zeit gefallen“, betont Verdi.
Solche Prämien könnten Beschäftigte unter Druck setzen, sich krank zur Arbeit zu schleppen – mit gleichermaßen hohen Risiken für Patienten und Mitarbeitende.