Ärger mit Pflegekasse? Dieses Tool erstellt Ihnen automatisch einen Widerspruch

In Deutschland beziehen etwa 5,5 Millionen Menschen Leistungen aus einer Pflegeversicherung, davon knapp 94 Prozent aus der sozialen Pflegeversicherung der gesetzlichen Krankenkassen. Welche Leistungen und Hilfen Versicherte in welcher Höhe erhalten, entscheidet dabei der Pflegegrad. Doch genau der ist immer wieder Anlass für Streit. 

Pflegen zum Beispiel Angehörige, Freunde oder Ehrenamtliche eine Person unentgeltlich zu Hause, unterscheidet sich das geleistete Pflegegeld je nach Pflegegrad um mehrere hundert Euro. Während Versicherte in Pflegegrad zwei monatlich etwa 347 Euro erhalten, sind es in Pflegegrad drei schon 599 und in fünf sogar 990 Euro. 

Viele Betroffene oder Angehörige sind mit der Entscheidung über den Pflegegrad nicht einverstanden und der Meinung, dass Leistungen unberechtigt abgelehnt wurden. Die Verbraucherzentralen wollen es in diesen Fällen einfacher machen, Einspruch bei den Pflegekassen einzulegen. Mit einem kostenfreien Online-Tool können Sie seit dieser Woche die Einstufung Ihrer Kasse prüfen und anhand dessen entscheiden, ob ein Widerspruch sinnvoll ist.

Einfacher widersprechen: Online-Tool soll dabei helfen

Dieses Tool der Verbraucherzentralen funktioniert folgendermaßen: Der Online-Pflegegradrechner, mit dem Betroffene seit April 2024 ihren voraussichtlichen Pflegegrad anhand von 64 Fragen selbst einschätzen können, wurde um eine Funktion erweitert: einen Widerspruchsgenerator.

Dazu geben Betroffene alle relevanten Angaben aus dem Gutachten des Medizinischen Dienstes sowie ihre eigene Einschätzung und zusätzliche Informationen in den Pflegegradrechner ein. So können Angehörige und Betroffene das Gutachten Schritt für Schritt durchgehen – und jederzeit pausieren.

Sollte das Online-Tool zum Schluss einen höheren Pflegegrad als die Pflegekasse errechnen, erstellt es automatisch ein Widerspruchsschreiben. Die darin enthaltene Begründung beruht auf den jeweiligen persönlichen Eingaben. 

Das Schreiben können Nutzer und Nutzerinnen kostenfrei herunterladen, ausdrucken und direkt an die Pflegekasse senden. Diese beauftragen nach Eingang eins Einspruchs der Regel ein Zweitgutachten. Sollte ein Antrag in einem Widerspruchsbescheid erneut abgelehnt werden, können Betroffene vor dem Sozialgericht klagen.

Wie der Pflegegrad festgestellt wird

Wer Leistungen seiner Pflegeversicherung in Anspruch nehmen möchte, muss diese zunächst bei der zuständigen Pflegekasse beantragen. Sind alle Anträge bearbeitet, kommt ein Gutachter oder eine Gutachterin zu der Person nach Hause um die Pflegesituation zu prüfen. Je nach Versicherung ist dafür der Medizinische Dienst (gesetzlich pflegeversichert) oder Medicproof (privat pflegeversichert) zuständig.

Die Gutachter betrachten dabei 64 Kategorien innerhalb sechs verschiedener Lebensbereiche

  • Beweglichkeit (Mobilität)
  • Kognitive und kommunikative Fähigkeiten (Verstehen und Sprechen)
  • Verhaltensweisen und psychische Problemlagen
  • Selbstversorgung
  • Umgang mit krankheits- und therapiebedingten Anforderungen und Belastungen
  • Gestaltung des Alltagslebens und sozialer Kontakte

Diese Bereiche werden in der Gesamtbetrachtung unterschiedlich gewichtet und ergeben am Ende eine Punktzahl zwischen eins und 100. Diese Zahl entscheidet über den Pflegegrad von eins (geringe Beeinträchtigung) bis fünf (schwerste Beeinträchtigungen, mit besonderen Versorgungs-Anforderungen) und die damit einhergehenden Leistungen.

Die Gutachter sprechen auf Basis ihres Besuchs eine Empfehlung aus – die finale Entscheidung über den Pflegegrad liegt jedoch bei den Kassen. Diese teilen sie über einen Pflegegradbescheid mit.

Rente, Pflege, Krankenkasse, Bürgergeld: Wie steht es um unser Sozialsystem? 

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Aussicht auf Erfolg: Widerspruch bei den Pflegekassen einreichen

Immer wieder kommt es vor, dass Angehörige oder Betroffene mit der Entscheidung der Kasse nicht einverstanden sind oder die Einstufung nicht nachvollziehen können. Ein zu niedriger Pflegegrad kann mehrere hundert Euro weniger im Monat bedeuten – etwa für Pflegesachleistungen, Zuschüsse zu einer Tagespflege oder anderen Entlastungsangeboten. Für Betroffene und pflegende Angehörige ergibt sich dadurch nicht nur eine erhebliche finanzielle, sondern auch emotionale Belastung.

Gründe für eine Abweichende Einschätzung der Gutachter können beispielsweise sein,

  • dass die betroffene Person während der Begutachtung ungewöhnlich selbstständig und fit erschien,
  • dass sie ihren eigenen Bedarf an benötigter Pflege falsch dargestellt hat,
  • dass sich der gesundheitliche Zustand seit dem Gutachten deutlich verschlechtert hat
  • oder, dass wichtige Aspekte im Gutachten nicht berücksichtigt wurden.

Versicherte können daher Einspruch bei ihrer Pflegekasse einlegen. Von rund 2,5 Millionen Pflegebedürftigen, die 2022 durch den medizinischen Dienst begutachtet wurden, war das bei 7,3 Prozent aller Gutachten der Fall. Laut dem Sozialverband VdK war im selben Jahr fast jeder dritte Widerspruch gegen einen Pflegegrad erfolgreich. 

Damit ein Widerspruch gelingt, muss dieser 

  • fristgerecht, in der Regel innerhalb eines Monats nach Zugang des Bescheides,
  • schriftlich (einige Kassen bieten auch eine Funktion per App),
  • unterschrieben und
  • falls durch Angehörige oder Dritte erhoben inklusive einer entsprechende Vollmacht

der Pflegekasse vorliegen. Um die Frist zu wahren, genügt zunächst ein kurzer formloser Widerspruch. Dem sollte zeitnah jedoch eine detaillierte Begründung folgen. Denn: "Um einen erfolgreichen Widerspruch zu erreichen, ist die Widerspruchsbegründung entscheidend", teilt die Barmer auf Nachfrage von FOCUS online mit. 

Komplexe Gutachten treffen auf falsche Erwartungen

Dafür müssen Versicherte allerdings erst einmal wissen, woran ihr Antrag genau gescheitert ist. Aufschluss darüber kann das Gutachten des Medizinischen Dienstes liefern, welches die Pflegekassen in der Regel zusammen mit dem Pflegebescheid zustellen.

Laut Barmer "bietet es sich an, sich an dem vorliegenden Pflegegutachten zu orientieren und anzugeben, wo man mit der Einschätzung des Gutachters nicht einverstanden ist". Betroffene sollten möglichst ausführlich darlegen, wo ein höherer Unterstützungsbedarf gesehen wird.

Doch so ein Gutachten kann länger als 20 Seiten sein und schnell überfordern, weiß Gisela Rohmann von der Verbraucherzentrale Rheinland-Pfalz. Der Landesverband bietet eine telefonische und schriftliche Pflege-Rechtsberatung an. "Wir haben in unserer Beratung festgestellt, dass häufig falsche Vorstellungen herrschen, welche Faktoren den Pflegegrad wirklich ausmachen", erläutert die juristische Fachberaterin im Gespräch mit FOCUS online.  

Denn ausschlaggebend seien eben nur die sechs Lebensbereiche, die der Medizinische Dienst laut Begutachtungsrichtlinie abfragt. "Oft wird in Widersprüchen angegeben, dass Unterstützung bei der Haushaltsführung und beim Einkaufen erforderlich ist. Dies sind jedoch keine für eine Pflegegradeinstufung relevanten Kriterien", sagt die Krankenkasse.

Auch Fehler im Gutachten, wie etwa eine falsche Jahreszahl bei einem Beinbruch, seien laut Rohmann zwar formal falsch, würden aber die Pflegegradentscheidung nicht beeinflussen. Mit dieser Begründung allein lässt sich demnach also kaum ein Widerspruch argumentieren. Seit dieser Woche bieten die Verbraucherzentralen deswegen die digitale Unterstützung an. 

Aufklärung statt zusätzliche Belastung der Pflegekassen

"Uns geht es darum, dass Versicherte und ihre Angehörigen das Gutachten besser verstehen und nachvollziehen können", sagt Felizitas Bellendorf, Pflegewissenschaftlerin und Pflegeexpertin der Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen im Gespräch mit FOCUS online. Für die Verbraucherzentralen stehe vor allem die Aufklärung im Fokus.

Daher liefert das Online-Tool bei jeder einzelnen Frage auch die entsprechenden Erklärungen und Beispiele mit. Wo genau liegt etwa der Unterschied zwischen "überwiegend unselbstständig" und "unselbstständig", wenn es um das Halten einer stabilen Sitzposition geht? Die fachlichen Abgrenzungen der Begutachtungsrichtlinie besser nachvollziehen zu können, kann sowohl Argumente für als auch gegen einen Widerspruch liefern.

"Es ist nicht unser Ziel, ein Gutachten zu ersetzen oder die Kassen noch mehr zu belasten. Im Gegenteil. Wenn man nicht aufgrund von Missverständnissen grundlos in den Widerspruch geht, spart das für alle Beteiligten Arbeitsbelastung und Stress", resümiert Bellendorf. Eine Rechtsberatung ersetze das Online-Tool zudem natürlich auch nicht.

Laut Barmer sollten Beratungsangebote und Pflegegradrechner am besten nicht erst nach der Begutachtung und im Zusammenhang mit einem Widerspruch genutzt werden, sondern im Voraus. Dabei sei es vor allem wichtig, verfügbare Tools möglichst selbstreflektiert zu nutzen, um ein authentisches Begutachtungsergebnis zu erlangen. 

Entsprechende Informationen und Beratungsangebote stellen die verschiedenen Pflegekassen in der Regel auch selbst bereit – etwa online oder als Broschüren.