Leutheusser-Schnarrenberger über Judenhass und Extremismus: „Proteste dürfen keine Eintagsfliege sein“

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Gut vernetzt und aktiv in ihrem Ehrenamt: die Feldafingerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (l.), Antisemitismusbeauftragte von Nordrhein-Westfalen, hier mit Holocaust-Zeitzeugin Margot Friedländer. © Riedl/dpa

Als Antisemitismusbeauftragte in NRW ist Sabine Leutheusser-Schnarrenberger gefragt wie nie zuvor. Die ehemalige Bundesjustizministerin aus Feldafing, heute noch FDP-Kreisrätin, spricht im Interview über ihr besonderes Ehrenamt – und wie sie Judenhass und Rechtsextremismus im Landkreis einschätzt.

Feldafing – Sabine Leutheusser-Schnarrenberger pendelt derzeit besonders oft zwischen zwei Welten – dem Fünfseenland und Nordrhein-Westfalen. Die großen regionalen Unterschiede klingen immer wieder durch, wenn man sich mit der ehemaligen Bundesjustizministerin über den zunehmenden Hass auf Menschen jüdischen Glaubens unterhält. Die 72-jährige FDP-Kreisrätin aus Feldafing, geboren in Minden, ist seit mehr als fünf Jahren Antisemitismusbeauftragte des Bundeslands NRW. Ein Ehrenamt, für das sie kürzlich den Preis für Zivilcourage der Jülicher Gesellschaft gegen das Vergessen und für die Toleranz erhalten hat. Und eine Tätigkeit, die sich seit dem Angriff der Terrorgruppe Hamas auf Israel deutlich verändert hat. Es versteht sich für Leutheusser-Schnarrenberger von selbst, dass sie nicht nur von ihrem Büro in der Staatskanzlei in Düsseldorf aus, sondern auch im Landkreis Starnberg gegen Antisemitismus und Rechtsextremismus wirkt. Ein Gespräch über ihr Engagement vor und hinter den Kulissen.

Frau Leutheusser-Schnarrenberger, sind Sie derzeit als Antisemitismusbeauftragte so gefragt wie nie zuvor?

Schon 2018, als mich die Landesregierung benannt hatte, nahm der Antisemitismus in Deutschland zu. Und noch mal mehr mit dem Raketenschuss der Hamas auf Israel im Jahr 2021. Aber der 7. Oktober 2023 hat wirklich alles gebrochen, seitdem ist die Arbeit noch viel intensiver.

Inwiefern?

Mein Schwerpunkt war nach dem 7. Oktober erst einmal, die jüdischen Gemeinden zu besuchen. Sie waren sehr verunsichert und verängstigt. Ich werde jetzt noch häufiger zu Veranstaltungen, aber auch zu internen Begegnungen eingeladen. Rundumbesuche an Schulen, in Universitäten, bei Kompetenz-Netzwerken und an Gedenkstätten habe ich seit 2018 gemacht und mit meinem Büro auch zahlreiche Veranstaltungen besonders zur Prävention gegen Antisemitismus angeboten. Jetzt geht es bei vielen Anfragen um den Terror der Hamas und den Nahostkonflikt. Und um die Gewalt und Hetze gegen Jüdinnen und Juden. Ich nehme die Sorgen sehr ernst. Hinweise auf mögliche Straftaten oder Bedrohungen gebe ich weiter. Ich stehe in gutem Austausch mit dem Landeskriminalamt. Und von Verfassungsschutzbehörden bekomme ich regelmäßig vertrauliche Informationen.

Hat der Antisemitismus in Deutschland einen neuen Höhepunkt erreicht?

Ja, das ist alleine an den stark gestiegenen antisemitisch motivierten Straftaten seit dem 7. Oktober messbar. Die Zahl hat sich zum Beispiel in NRW im zweiten Halbjahr mehr als verdoppelt. Und dabei sind Hass und Hetze im Netz noch gar nicht erfasst.

Wie sind Sie eigentlich damals als überhaupt erste in NRW zu diesem Ehrenamt gekommen?

Zunächst gab es einen Landtagsbeschluss ohne Namensvorschlag, dann wurde ich von der Regierung ernannt – wohl auch, weil ich mich als Bundesjustizministerin für die Aufarbeitung von Unrecht zu Zeiten des Nationalsozialismus engagiert oder zum Beispiel in den 1990er-Jahren die Gesetzgebung forciert habe, dass das Holocaust-Leugnen als Volksverhetzung zu einem Straftatbestand wird. Außerdem habe ich für die Beschneidung die rechtliche Absicherung geschaffen.

Geben Sie doch bitte mal ein konkretes Beispiel für Ihre Arbeit.

Ich diskutiere viel an Schulen mit hohem Migrationsanteil. Ich erlebe teils eine aufgeheizte Stimmung, die Lehrkräfte sind sehr gefordert. Ich fördere aus meinem Budget die ersten 100 digitalen Führungen durch das Konzentrationslager Auschwitz mit einem Guide vor Ort. Das ist eine neue, sehr hilfreiche Vermittlungsform des Erinnerns.

Wenn Hitler-Bilder oder Nazi-Sprüche in Klassenchats auftauchen: Wie gehen Sie da ran mit der Aufklärung?

Offensiv. Ich frage erst einmal „Wisst ihr eigentlich, wer das ist?“ und erinnere daran, dass Menschen wegen der Rassenlehre Hitlers aufgrund ihrer Hautfarbe oder ihres Glaubens deportiert und getötet wurden. Ich spreche mehr von „Judenhass“, Antisemitismus ist ja nicht jedem ein Begriff. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es gut ist, wenn sich Schüler mit lokaler Geschichte befassen. Nach dem Motto: Dort um die Ecke wurden am 9. November 1938 Synagogen oder Kleidergeschäfte abgefackelt und die Inhaber verschleppt. Sechs Millionen ermordete Juden: Das ist erschreckend, aber eine abstrakte Zahl, die junge Menschen nicht emotional anspricht.

Sie lässt das Thema wahrscheinlich auch nicht im Landkreis Starnberg kalt. Inwiefern wirkt ihr Amt ins Fünfseenland hinein?

Eine jüdische Gemeinde gibt es ja im Landkreis nicht. Ich habe mich zum Beispiel für die bessere Pflege des jüdischen Friedhofs in Feldafing eingesetzt. Ich bin auch beim Starnberger Dialog dabei, der sich mit dem Thema Antisemitismus auseinandersetzt. Vereinzelt erhalte ich auch vertrauliche Mails oder Briefe von Bürgern, die sich durch Äußerungen beleidigt und verletzt fühlen. Das müssen gar nicht Juden sein. Es geht oft um eine angebliche Weltverschwörung, die Corona noch mal verschärft hat. Ein Beispiel: Die Juden beherrschten ja die Impfstoffe, die Implantate seien und Menschen zu Sklaven machen würden. Immer wenn es Krisen gibt, werden Juden zu Sündenböcken.

Wie stark ist der Rechtsextremismus im Landkreis?

Natürlich gibt es immer mal wieder Auffälligkeiten, aber mit meinen Eindrücken und Erlebnissen in NRW lässt sich das überhaupt nicht vergleichen.

Nehmen Sie eine Verstärkung des Rechtspopulismus oder -extremismus in der Lokalpolitik wahr?

Im Landkreis nicht so sehr wie anderswo. Es gibt einen AfD-Kreisrat, da kann man jetzt nicht von einer Verschiebung des Diskurses sprechen. Natürlich forciert er die Themen Geflüchtete und Ausländer. Er sitzt auch im Landtag. Die AfD-Fraktion hat sich in Richtung eines Höcke-Kurses entwickelt. Und der ist faschistisch und rechtsextrem.

Haben Sie sich selbst an den Demos gegen Rechtsextremismus beteiligt?

Ja, an einer riesengroßen mit fünfstelliger Teilnehmerzahl in Düsseldorf. Zuletzt war ich auch in Seefeld, und im April und Mai sind im Landkreis Dialoge geplant, die sich mit diesem Thema befassen. Ich versuche, präsent vor Ort zu sein – auch intern als Ratgeberin und Informantin. Ich bin Mitglied des Runden Tischs gegen Extremismus und sehr froh, dass jetzt so viele Bürger auf die Straße gehen, auch in kleineren Orten. Die Proteste dürfen aber keine Eintagsfliege sein, das Engagement darf nicht aufhören.

Apropos aufhören: Wie lange machen Sie noch weiter als Antisemitismusbeauftragte?

Die Koalition aus CDU und Grünen hat mich ja Mitte 2022 für weitere fünf Jahre bestätigt. Aber das wäre wirklich das Äußerste.

Und treten Sie 2026 noch mal als Kreisrätin an?

Darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht. Ich will es nicht komplett ausschließen. Aber ich bin jetzt 72 Jahre alt. Ich muss ja nicht den Biden geben.

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