Dietramszellerin Emma Gania: An allen Handicaps vorbei getanzt

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Auf dem Treppchen ganz oben: Emma Gania vor der zweitplatzierten Südafrikanerin Bianca Basson und der Kanadierin Brooke Thomas. © kn

Die Dietramszeller Eiskunstläuferin Emma Gania muss auf dem Weg zur Goldmedaille bei den Special Olympics gegen einige Ungerechtigkeiten ankämpfen.

Turin/Dietramszell/Geretsried – Sieben Jahre harte Arbeit haben sich ausgezahlt: Die Dietramszellerin Emma Gania hat, wie berichtet, bei den Special Olympics in Turin die Goldmedaille gewonnen. Die sportliche Laufbahn der Eiskunstläuferin des ESC Geretsried zeigt aber auch, dass es für Sportler mit geistiger Behinderung noch ein weiter Weg bis zur Gleichberechtigung ist. Und dass in dieser Hinsicht schon viel passiert ist.

Strahlende Goldmedaillen-Gewinnerin: Emma Gania.
Strahlende Goldmedaillen-Gewinnerin: Emma Gania. © kn

Die Ganias sind eine Eishockey-verrückte Familie. Paul (24) spielt für die Geretsrieder River Rats in der Bayernliga. Lilly (16) ist U18-Nationaltorhüterin und beim EC Bad Tölz aktiv. Papa Thomas war sieben Jahre Nachwuchs-Vorstand beim ESC Geretsried und ist jetzt Präsident. Wie ihre Geschwister stand Emma Gania im Alter von drei Jahren das erste Mal auf Schlittschuhen. Es blieb bei einem kurzen Intermezzo: „Wir haben festgestellt, dass Eishockey für sie zu schnell und zu körperlich ist“, erinnert sich Thomas Gania. Seine Tochter konzentrierte sich fortan aufs Turnen und Reiten. Irgendwann wurde der Altersunterschied zu den anderen Kindern in ihrer Gruppe zu groß, Emma verlor den Spaß am Turnen und sah sich 2018 nach einer anderen Sportart um.

Vom ersten Moment an begeistert

Da traf es sich günstig, dass beim ESC Geretsried gerade eine Eiskunstlauf-Inklusionsgruppe im Aufbau war. „Beim ersten Training ist sie mit Eishockey-Schlittschuhen aufgetaucht“, erinnert sich Trainerin Melanie Vollbrecht schmunzelnd. „Da habe ich ihr gesagt, dass sie erst mal andere Schlittschuhe braucht, wenn sie bei uns mitmachen will.“ Emma Gania war Feuer und Flamme, und fortan ging alles ziemlich schnell. Sie trat mit der Inklusionsgruppe beim Schaulaufen des ESC Geretsried auf. Durch Zufall war diejenige im Stadion, die bei den Special Olympics 2020 im Berchtesgadener Land für die Organisation der Eröffnungsfeier zuständig war. „Sie war von unserem Auftritt so begeistert, dass sie uns gefragt hat, ob wir mit einer Choreografie bei den Special Olympics auftreten wollen“, erinnert sich Vollbrecht. „Wir hatten erst Bedenken, ob wir das schaffen – aber dann waren alle begeistert.“

„Die beiden haben trainiert bis zum Exzess“

So kam die Idee auf, dass die Geretsrieder mal an einem Wettbewerb teilnehmen sollen. „Dann hat sich aber rausgestellt, dass wir der einzige Verein in Deutschland sind, der inklusiven Eiskunstlauf anbietet.“ So wurde das nächste große Ziel ins Auge gefasst: die Teilnahme an den Special Olympics World Winter Games in Kasan (Russland). Gania wollte im Unified-Wettbewerb gemeinsam mit der nicht-behinderten Eiskunstläuferin Lena Vollbrecht (20) aus Geretsrieder antreten. Um im Level 1 starten zu dürfen, musste Gania lernen, wie man mit den Schlittschuhen übersetzt. „Die beiden haben trainiert bis zum Exzess“, erinnert sich Melanie Vollbrecht. Und tatsächlich: Sie schafften die Qualifikation, wurden offiziell nominiert. Als die beiden alle notwendigen ärztlichen Bescheinigungen eingereicht hatten, folgte der Schock: Die Special Olympics werden wegen Corona auf 2023 verschoben. Doch auch daraus wurde nichts. Es begann der Ukraine-Krieg – und die Special Olympics wurden abgesagt.

Dreimal für Special Olympics qualifiziert, dreimal kein Startrecht

Doch die beiden trainierten eisern weiter. Dann sollte es eben 2025 mit der Qualifikation für die Special Olympics in Turin klappen. Gania und Vollbrecht schafften die Qualifikation auf Landesebene, und dann gewannen sie auch noch die Goldmedaille beim Bundeswettbewerb in Erfurt. Wieder wurden sie offiziell für die Spieler nominiert, wieder gaben sie alle ärztlichen Atteste ab. „Im Urlaub habe ich dann den Anruf bekommen: Schlechte Nachrichten, der Unified-Wettbewerb wird gestrichen“, sagt Lena Vollbrecht. „Wenn ein Wettbewerb derart kurzfristig abgesagt wird, ist das natürlich schade.“ Deshalb musste Emma Gania in Turin im Einzel-Wettbewerb antreten.

Absage „total unverständlich“ und „fast schon skandalös“

Thomas Gania machte diese Nachricht fassungslos: „Beim Unified-Wettbewerb treiben Menschen mit Behinderung Sport mit Menschen ohne Behinderung – das ist das Herzstück der Bewegung.“ Diese Entscheidung sei daher „total unverständlich“ und „fast schon skandalös“. Ein Grund für die Absage sei nicht genannt worden, „darüber kann man nur spekulieren“.

Qualifiziert und vor den Special Olympics auseinandergerissen: Emma Gania und ihre Partnerin im Unified-Wettbewerb, Lena Vollbrecht.
Qualifiziert und vor den Special Olympics auseinandergerissen: Emma Gania (li.) und ihre Partnerin im Unified-Wettbewerb, Lena Vollbrecht. © Patrick Staar

Generell ist es schwer nachvollziehbar, nach welchen Kriterien die Wettbewerbe ausgewählt werden. So gibt es beim Eiskunstlauf sieben verschiedene Leistungsklassen. Von Level 0 (sehr einfach) bis Level 6 (extrem anspruchsvoll). Für die Special Olympics in Turin wurden nur Sportler aus dem Level 1 zugelassen. Diese Kriterien erfüllen nur zwei Deutsche: der Erfurter Rico Haupt und Emma Gania. Sportler aus den anderen sechs Leistungsklassen mussten daheim bleiben.

Behinderte Sportler müssen alles selbst bezahlen

Und auch beim Drumherum gibt es gewaltige Unterschiede zwischen dem Umgang mit behinderten Sportlern. „Wenn Lilly mit der Eishockey-Nationalmannschaft unterwegs ist, werden die Mädels von hinten bis vorne von olympischen Ärzten durchgecheckt“, sagt Thomas Gania. Die behinderten Sportler müssten dagegen zu ihrem Hausarzt gehen und alles selber bezahlen. „Ein Wahnsinns-Unterschied bei der Bewertung der Sportarten – da gibt’s noch viel Nachholbedarf.“

Die Fortschritte sind unübersehbar

Allerdings sind auch die Fortschritte unübersehbar: „Special Olympics Deutschland ist auf der politischen Ebene schwer aktiv“, berichtet Thomas Gania. In Ingolstadt geb es nun einen Eiskunstlauf-Wettbewerb für geistig Behinderte, Ottobrunn wolle nachziehen. Bei den Tiroler und nationalen österreichischen Meisterschaften in Innsbruck durften Eiskunstläufer mit geistiger Behinderung auftreten: „Zur Premium-Zeit, nicht um sieben Uhr morgens oder 22 Uhr abends, wenn kein anderer mehr laufen will“, schwärmt Gania. „Da haben die ganzen großen Läufer mitgemacht, die man aus dem Fernsehen kennt – das war super toll.“ Die Einladung nach Innsbruck zeige: „Die Behinderten trainieren genauso hart wie wir, die gehören dazu – schön.“

Lange Zeit einzigartig in Deutschland: Die Inklusionsgruppe des ESC Geretsried um Trainerin Melanie Vollbrecht (2. v. li.), in der behinderte und nichtbehinderte Sportler gemeinsam trainieren.
Lange Zeit einzigartig in Deutschland: Die Inklusionsgruppe des ESC Geretsried um Trainerin Melanie Vollbrecht (2. v. li.), in der behinderte und nichtbehinderte Sportler gemeinsam trainieren. © Patrick Staar

Emma Gania arbeitet Oberland-Werkstätten und trainiert viermal wöchentlich. Zum festen Übungsprogramm gehören Trockentraining und das Klettern in der Tölzer Kletterhalle. Montags übt sie mit den Nicht-Behinderten: „Es macht ihr gar nichts aus, wenn es mal schneller zugeht, sie fügt sich da gut ein“, sagt Melanie Vollbrecht: „Viele bemerken gar nicht, dass sie eine Beeinträchtigung hat.“

Die Goldmedaille trägt die Aufschrift: „Special Olympics World Winter Games Turin 2025“.
Die Goldmedaille trägt die Aufschrift: „Special Olympics World Winter Games Turin 2025“. © kn

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