Interview mit ranghöchstem Soldat der Bundeswehr - Greift Putin die Nato an? „Ich muss vom schlimmsten Fall ausgehen“

Herr Claesson, Sie sind Befehlshaber der schwedischen Streitkräfte. Was war Carsten Breuer für ein Schüler, als Sie gemeinsam von 1997 bis 1999 an der Hamburger Führungsakademie der Bundeswehr den Generalstabslehrgang besuchten? Sprach damals etwas dagegen, dass er einmal Deutschlands oberster Soldat werden würde?
CLAESSON: Nein, er war schon damals ein toller Kamerad und sehr guter Offizier, der etwas von Menschenführung versteht. Ausländische Teilnehmer wie mich hat er vorbildlich in die Gruppe integriert.

BREUER: Zwei Jahre gemeinsam auf der Schulbank schweißen zusammen – und haben eine Vertrauensbasis geschaffen, von der wir in unseren heutigen Funktionen profitieren. Ich musste nicht erst herausfinden, was der neue Generalstabschef unseres jüngsten Nato-Alliierten Schweden für ein Typ ist.

Schweden gehörte bis zum März 205 Jahre lang keinem Militärbündnis an. Hätten Sie sich damals einen Nato-Beitritt vorstellen können?
CLAESSON: Nein, das stand überhaupt nicht auf der Tagesordnung der schwedischen Sicherheitspolitik – erst Russlands Aggression und die neue Bedrohungslage haben den Nato-Beitritt auf die Agenda gesetzt.

Ihre militärischen Karrieren begannen im Kalten Krieg, der mit zwei sich in Schach haltenden Machtblöcken im Rückblick relativ überschaubar wirkt. War er das?
BREUER: Im Vergleich zum Kalten Krieg muss man leider feststellen, dass die Lage heute unübersichtlicher und gefährlicher ist – vor allem auch mit Blick auf Russland. Wir hatten damals eingespielte Kommunikationskanäle und Reaktionsmöglichkeiten. Selbst in einer atomaren Bedrohungslage gab es das rote Telefon und Gesprächspartner, die man kannte. Wenn die Spannungen zunahmen, ließen sich diese Kanäle zur Deeskalation nutzen. Heute gibt es diese Drähte nicht, was die Situation viel unübersichtlicher und damit unsicherer macht.

Schweden hat, noch ohne Nato-Mitgliedschaft, früher als andere Staaten auf die Bedrohung durch Russland reagiert. Wie kam das?
CLAESSON: Unser Weckruf kam im Jahr 2013. Die russische Luftwaffe flog damals über schwedisches Territorium und simulierte eine Attacke auf unser Land. Das öffnete uns die Augen und zog erste Veränderungen der sicherheitspolitischen Landschaft nach sich. Schon Russlands Krieg gegen Georgien 2008 hätte ein Weckruf sein müssen …

… der auch in Deutschland nicht gehört wurde …
… aber immerhin haben wir dann nach der Annexion der Krim 2014 mehr Geld in unsere Sicherheit investiert und eine 180-Grad-Wende weg vom internationalen Krisenmanagement zurück zur Landesverteidigung eingeleitet. Wir haben zum Beispiel unsere Ostseeinsel Gotland 2004 komplett demilitarisiert – und 2015 dort wieder Streitkräfte und Schiffe stationiert. 2018 haben wir die 2010 abgeschaffte Wehrpflicht wieder eingeführt. Da waren wir tatsächlich etwas früher dran als andere. 
Weiter zugunsten eines Nato-Beitritts wandte sich die politische Stimmung dann Ende 2021, wenige Wochen vor dem Überfall auf die Ukraine, als Russland uns Schweden und Finnland einen Vertrag anbot, in dem wir zusagen sollten, niemals der Nato beizutreten.

BREUER: Da fällt einem der Ausspruch von Mark Twain ein, dass sich Geschichte nicht wiederholt, sie sich aber reimt. Wir sind etwas später aufgewacht, richten die Bundeswehr aber ebenfalls wieder verstärkt auf die Landes- und Bündnisverteidigung aus und denken neu über den Wehrdienst nach.

Schweden ist ganz frisch in der Nato, aber in Sachen „Zeitenwende“ schon deutlich weiter als Deutschland. Widerspricht der Generalinspekteur?
BREUER: Zum einen sollten wir nicht vergessen, dass wir derzeit 100 Milliarden in unsere Bundeswehr investieren. Das wird häufig als etwas Selbstverständliches wahrgenommen. Das wird dieser auch gesellschaftlichen Anstrengung, die wir gerade unternehmen, nicht gerecht. Zur Zeitenwende gehört eben nicht nur das Militärische. Wir haben uns in der Vergangenheit zu oft in eine Welt ohne Kriege hineingewünscht. Wir haben die Augen vor Dingen verschlossen, die wir nicht sehen wollten. Eine Gesellschaft kann aber nur als Ganzes wehrfähig werden – sie bildet das Rückgrat für die Entwicklung der jeweiligen Armee. Schweden ist in vielen Belangen ein Vorbild für uns, wenn es um die gesellschaftliche Verankerung der Wehrhaftigkeit geht.

Warum ist das aus Ihrer Sicht so, Herr Claesson?
CLAESSON: Wir haben nach dem Zweiten Weltkrieg, in dem wir neutral waren, das Konzept der „Totalverteidigung“ entwickelt, um unsere Unabhängigkeit zu bewahren. Damit ist die Einbindung aller Schweden zwischen 16 und 70 Jahren in die Verteidigung gemeint. Das war also eine natürliche Sache für uns, daran konnten wir jetzt wieder erfolgreich anknüpfen. Es gab keinen großen Aufschrei, als wir 2015 alle Einwohner in einer Broschüre aufforderten, sich auf einen Ernstfall vorzubereiten – und auch nicht bei der Wiedereinführung der Wehrpflicht. Alle Behörden, Städte und Gemeinden sind in die Planungen für den Kriegsfall eingebunden.

BREUER: Im Grunde genommen machen wir jetzt genau dasselbe. Schwedens nationaler Verteidigungsplan heißt bei uns Operationsplan Deutschland. Er liegt nach zweieinhalb Jahren Arbeit in seiner ersten Fassung jetzt vor. Wir testen ihn jetzt auch mit zivilen Partnern. Wir stehen, davon bin ich überzeugt, besser da, als manchmal geunkt wird.

Schweden ist in vielen Belangen ein Vorbild für uns, wenn es um die gesellschaftliche Verankerung der Wehrhaftigkeit geht.

Aber ist die gesellschaftliche Verankerung der Wehrhaftigkeit, die Sie fordern, in Deutschland nicht eher schwach ausgeprägt? Zeigen das nicht die Wahlergebnisse von AfD und BSW, die mit dem Anprangern angeblicher „Kriegstreiberei“ punkten?
BREUER: Unterschiedliche Meinungen gehören zu einer Demokratie. Aber der Auffassung, von Russland gehe keine Gefahr aus, muss ich klar und begründet widerspechen. Und als Generalinspekteur der Bundeswehr sehe ich es als meine Pflicht an, das auch deutlich zu tun. Die Fakten zeigen nämlich das Gegenteil: Russland stellt seine Armee neu auf. 

Trotz des Angriffs auf die Ukraine werden die Depots weiter mit Munition und Material aufgefüllt. Als militärischer Planer muss ich vom schlimmsten Fall ausgehen, dass Russland sich so für einen Angriff auf uns rüsten könnte. Diese Bedrohung benenne ich auch deshalb so klar, damit die Bürgerinnen und Bürger sich nicht von Verharmlosungen verleiten lassen. Wir müssen und können uns vorbereiten.

CLAESSON: Ich möchte nicht den Eindruck erwecken, in Schweden habe es keine Debatten gegeben. Als ich vor einem Jahr an einer Sicherheitskonferenz in Nordschweden teilnahm, sprach mein Vorgänger von „Krieg“ – und löste einige Aufregung aus. Begriffe wie „Krisenbereitschaft“ oder „Verteidigungsfähigkeit“ waren in Ordnung, nicht aber „Krieg“.

BREUER: Das kenne ich. CLAESSON: Wir müssen uns leider an eine neue Normalität gewöhnen, in der vielleicht über viele Jahre die Gefahr eines drohenden Krieges gegen uns besteht. Das ist zum Glück kein Automatismus, aber wir müssen uns auf dieses Risiko vorbereiten.

BREUER: Was auf uns zukommen kann, müssen wir als das benennen, was es ist: Krieg. Die schwedische Armee und die Bundeswehr und ebenso alle verbündeten Streitkräfte in der Nato haben aber die Möglichkeit, sich so aufzustellen, dass es nicht dazu kommt. Das ist der Kern von Abschreckung.

Wie hilft Schweden als neuer Partner der Nato auf diesem Weg?
BREUER: Schweden verstärkt die Allianz mit seinen Soldatinnen und Soldaten, der extrem gut ausgebildeten, operativ sehr erfahrenen Marine und einem besonders ausgeprägten Willen zusammenzustehen und im Bündnis das Nato-Gebiet zu verteidigen. Schwedens Beitritt macht die Ostsee und damit die Nordostflanke der Nato sicherer. Davon konnte ich mir bei einem Besuch im Sommer ein Bild machen. Und unterschätzen Sie nicht das Symbol: Putins Krieg gegen die Ukraine hat die Nato vergrößert, uns noch enger zusammengeschweißt und noch stärker gemacht.

Zusammen mit Finnlands Beitritt hat sich insbesondere in der Ostsee, deren Küsten nun fast ganz Nato-Ländern gehören, eine neue strategische Lage ergeben. Wie wichtig ist das, um Russlands Aktivitäten dort Einhalt zu gebieten?
CLAESSON: Wir kennen unsere Ostsee genau und haben ein sehr gutes Lagebild. Die Zunahme russischer Aktivitäten auf See, aber auch in der Luft, ist umfassend – auch wenn die russischen Landstreitkräfte in der Ukraine riesige Verluste erleiden. Aber es geht nicht nur um die Luftwaffe Russlands oder ihre baltische Flotte. Sorgen bereitet uns insbesondere die Schattenflotte – so bezeichnen wir angebliche Handels- oder Forschungsschiffe, die alles andere als Handel und Forschung im Sinn haben. Auch Kriegsschiffe von mit Russland verbundenen Ländern durchfahren die Ostsee viel häufiger als früher.

BREUER: Die hybriden Aktivitäten insgesamt haben stark zugenommen. Dazu kann auch gehören, dass Unterseekabel beschädigt, wenn nicht absichtlich zerstört werden. Wir alle haben davon in den letzten Tagen gelesen und gehört. Allein die Tatsache, dass wir hierbei, auch wenn der Vorfall noch nicht vollends aufgeklärt ist, einen hybriden Angriff als äußerst realistisch in Erwägung ziehen müssen, sollte uns zu denken geben. Gerade im Ostseeraum sehen wir die hybride Kriegführung von russischer Seite besonders klar, aber letztlich findet sie Tag für Tag im gesamten Nato-Raum statt.

Ich finde es sehr positiv, wie die Bundesrepublik in eine Rolle hineinwächst, die ihrer Größe in Europa entspricht.

Gerade sind Russlands Drohungen sehr real, nachdem die Ukraine mit US-Erlaubnis und amerikanischen Raketen Ziele weit in russischem Territorium angegriffen hat. Ex-Premier Dmitri Medwedew spricht vom drohenden Weltkrieg, Außenminister Sergej Lawrow verweist auf die neue Nukleardoktrin mit niedrigerer Hemmschwelle zum Einsatz taktischer Atomwaffen. Wie ernst nehmen Sie das?
CLAESSON: Natürlich müssen wir mögliche Gegenmaßnahmen in ihrer ganzen Bandbreite durchdenken, auch solche Worst-Case-Szenarien wie einen atomaren Angriff. Aber: Russland will vor allem Angst schüren. Es droht dem Westen seit zweieinhalb Jahren mit Atomwaffen. Ich denke, das hilft zur Einordnung der aktuellen Aussagen.

BREUER: Das ist schlimm und ernst zu nehmen. Russland droht hier mit dem Einsatz von Nuklearwaffen. Jedoch: Neben der Verbreitung von Furcht sollen diese Drohungen vom eigenen Völkerrechtsbruch und dem legitimen Selbstverteidigungsrecht der Ukraine ablenken. Ich rate auch deshalb zur Gelassenheit. Trotzdem darf man die Drohungen nicht unterschätzen.

Geschlossen wirkt die Nato in der Reaktion auf die Bedrohung nicht immer. Geht es um die Ukraine, steht Schweden eher an der Seite der Balten und Polens, während Berlin und Paris zurückhaltender sind. Der Kanzler spricht von Besonnenheit, andere nennen das Zögerlichkeit. Wie schauen Sie auf Deutschland, Herr Claesson?
CLAESSON: Wenn ich Deutschlands Rolle heute mit der Ende der 90er Jahre vergleiche, als ich bei der Bundeswehr zu Gast war, ist das nicht weniger als eine Revolution. Sie unterstützt die Ukraine umfassend, hilft in Litauen beim Schutz der Nato-Ostflanke und setzt die „Zeitenwende“ um. Viele haben das so nicht erwartet. Ich finde es sehr positiv, wie die Bundesrepublik in eine Rolle hineinwächst, die ihrer Größe in Europa entspricht. Zögerlichkeit kann ich nicht erkennen.

Auf Europa könnte es künftig immer mehr ankommen. Befürchten Sie, dass die Allianz unter Donald Trump Schaden nimmt?
CLAESSON: Wir werden Druck bekommen in Europa, mehr für unsere eigene Sicherheit und Verteidigung zu tun. Das haben wir schon von Eisenhower und vielen Nachfolgern gehört – Präsident Trump drückt es nun direkter aus. Letztendlich müssen wir abwarten, wie er konkret handeln wird. Ein Ende der transatlantischen Verbindung erwarte ich aber nicht, weil sie auch für die Amerikaner wichtig ist – nur eine andere Lastenteilung.

BREUER: Der sogenannte europäische Pfeiler in der Nato ist schon stärker geworden, muss aber, das wissen wir alle, weiter ausgebaut werden. Wir werden in Europa mehr Verantwortung für unsere eigene Sicherheit übernehmen müssen. In den vergangenen Jahrzehnten hatten wir viel Glück. Wir konnten uns hundertprozentig darauf verlassen, dass eine große Anzahl amerikanischer Soldatinnen und Soldaten zur Verteidigung in Europa eingesetzt worden wäre. Das ist jetzt, angesichts der Vielzahl potentieller Konfliktherde weltweit, nicht mehr uneingeschränkt der Fall. Das transatlantische Verhältnis als solches ist über Jahrzehnte gewachsen und ist stabil. Wir haben eine enge Partnerschaft und können uns aufeinander verlassen.

CLAESSON: Meiner Meinung nach wird zu viel darüber geredet, wer im Weißen Haus sitzt. Unser Problem sitzt im Kreml.

Herr Breuer, in Deutschland wird bald entschieden, wer im Kanzleramt sitzt. Wäre Verteidigungsminister Boris Pistorius in diesen Zeiten dafür eine gute Wahl gewesen?
BREUER: Ich bin froh, dass ich als oberster militärischer Berater der Bundesregierung auf meine parteipolitische Neutralität verweisen kann.

Von Christopher Ziedler