„Ich war durch“: Grafinger (57) marschiert 643 Kilometer – und landet bei sich selbst

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Start: Der Grafinger Robert Haimerl beginnt mit 27 Kilo Gepäck den Olavsweg am Anfangsstein in Oslo. © privat

643 Kilometer, 15.300 Höhenmeter, 923.400 Schritte: Vier Wochen lang hat sich Robert Haimerl aus Grafing auf dem Olavsweg durch die norwegische Wildnis geschlagen. Nun ist der vorübergehende Aussteiger von seiner Pilgerreise zurück und erzählt von Glücksmomenten, Durchhängern, Kulturschocks und besonderen Begegnungen.

Grafing/Oslo – Gemächlich setzt Robert Haimerl einen Fuß vor den anderen. Seit Stunden durchquert der 57-jährige Grafinger bereits eine kilometerweite Heidelandschaft in der Nähe der norwegischen Stadt Lillehammer. Von der frühsommerlichen Hitze stehen ihm die Schweißtropfen auf der Stirn, Mund und Augen sind trocken. In der sonst so einsamen Landschaft macht Haimerl in weiter Ferne plötzlich mehrere schwarze Punkte aus.

Der Fjell kurz vor Hjerkinn: Die baumlose nordische Hochebenen- und Gebirgslandschaft im Herzen Norwegens.
Der „Fjell“ kurz vor Hjerkinn: Die baumlose nordische Hochebenen- und Gebirgslandschaft im Herzen Norwegens © privat

Hinter einem Stein hört er schon die Moschusochsenherde herantrampeln, doch dann...

„Moschusochsen, ist es mir sofort in den Kopf geschossen“, erzählt der gelernte Orthopädieschuhmacher von seinem Erlebnis. Die bis zu 400 Kilogramm schweren und zweieinhalb Meter großen Tiere leben in Norwegen in freier Wildbahn – „und sollten mit sehr großem Abstand gemieden werden“, betont Haimerl. Doch die Herde scheint sich geradewegs auf den Grafinger zuzubewegen. „Ich hatte so Muffensausen, ich hab mich dann hinter einem Stein versteckt“, erzählt der 57-Jährige weiter. Als die vibrierenden Hufschläge näher kommen, riskiert er einen vorsichtigen Blick und muss erstaunt feststellen: Die befürchteten Moschusochsen entpuppen sich als kleine, schwarze Schafe.

Mitten in der Wildnis: An einem kleinen Bach hat Haimerl sein Lager mit Zelt und Isomatte aufgeschlagen.
Mitten in der Wildnis: An einem kleinen Bach hat Haimerl sein Lager mit Zelt und Isomatte aufgeschlagen. © privat

Anfang Mai sperrte Robert Haimerl dieses Jahr sein Geschäft in der Rotter Straße in Grafing zu. Der Grund: Der selbstständige Handwerker will erst einmal aussteigen. Auf dem norwegischen Olavsweg, der sich ganze 643 Kilometer durch Südnorwegen von Oslo nach Trontheim erstreckt, möchte er entschleunigen, wieder zu sich selbst finden. „Ich wollte zur Ruhe kommen, raus aus dem Hamsterrad“, erzählt der 57-Jährige, dem die vergangenen Jahre körperlich und seelisch viel abverlangt haben. „Ich hatte Schulterschmerzen psychosomatischer Art, stressbedingten Hautausschlag, ich war durch“, betont Haimerl. Eine Auszeit habe er dringend benötigt – und auf die hat sich der Grafinger auch gut vorbereitet. Bis in den Dezember trainierte er im vergangenen Jahr im Kirchseeoner Moos für seinen langen Marsch zu sich selbst. Selbst bei dichtem Schneetreiben spannte Haimerl dort seine Hängematte zwischen den Tannen.

Grafinger hat die Schnauze voll: Geschäft zugesperrt und ab in die Wildnis

Ohne viel Schnickschnack, unter freiem Himmel, völlig allein: So will der Grafinger auch in der naturbelassenen Landschaft von Skandinavien schlafen. Doch es kommt anders als geplant. „Ich konnte nur vier Mal in der Wildnis mein Zelt aufschlagen“, resümiert er. „Mir sind einfach die flachen Ebenen ausgegangen.“ Das bergige Gelände und die zu laufenden Höhenmeter habe er einfach unterschätzt. So verbringt Haimerl den Großteil der Nächte auf Campingplätzen oder in Hotels. Aber nicht nur das: „Ich wollte eigentlich frei nach Schnauze gehen und bin die ersten Tage mitten durch die Pampa gelaufen“, sagt er. Doch die Schneeschmelze macht ihm schnell einen Strich durch die Rechnung. „Der Boden war so aufgeweicht, nass und sumpfig. Das war zu pervers.“ Nach zwei Tagen gibt er die Wildnis auf und läuft zurück auf den Normalweg.

Das hat was mit mir gemacht.

Zwischen 17 und 39 Kilometer legt der Grafinger dort tagtäglich zurück. Sein Weg führt vorbei an Felsen, Wäldern, Seen und Bächen. Das gibt Haimerl Zeit zum Denken. Stundenlang kreisen ihm schöne und schlechte Gedanken durch den Kopf, erzählt er. „Erst mit der Zeit wurde ich ruhiger und hab gelernt, mir weniger Sorgen zu machen. Ich wusste ja, am Ende passt alles.“ So findet er plötzlich eine offene Schutzhütte, als ihm eines Tages auf einer Hochebene eine schwarze Unwetterfront entgegenzieht. Und eines Abends, als der Grafinger noch auf der Suche nach einem Schlafplatz ist, trifft er vor einem kleinen Supermarkt auf ein älteres Ehepaar. Kurzerhand laden ihn die beiden zu sich nach Hause ein, grillen für ihn und lassen den Aussteiger in ihrem Garten übernachten. „Es war göttliche Fügung“, kommentiert Haimerl, der sich mit der norwegischen Art dennoch erst anfreunden musste. „Es grüßt dich keiner, das mag ich überhaupt nicht“, erklärt er die skandinavischen Gepflogenheiten. „Die haben eine ganz eigene Art, sind mürrisch und trotzdem helfen sie einem, wenn es darauf ankommt.“

Ziel: Haimerl lehnt am Schlussstein in Trondheim vor dem Nidarosdom. 643 Fußkilometer liegen hinter ihm
Ziel: Haimerl lehnt am Schlussstein in Trondheim vor dem Nidarosdom. 643 Fußkilometer liegen hinter ihm © privat

Seine Gedanken und Erlebnisse der Pilgerreise schreibt Haimerl in ein kleines Tagebuch. „Ich wollte wissen, was mit mir mental passiert“, erklärt er und ergänzt schwärmend: „Die Auszeit war ein Traum. Dass ich mich getraut habe, das zu machen – das auszuhalten“, sagt der 57-Jährige stolz. „Das hat was mit mir gemacht.“ Trotz der körperlichen Anstrengung fühlt sich Robert Haimerl, der mittlerweile wieder im heimischen Grafing ist, erholt – und er zieht Konsequenzen. In seinem Geschäft möchte er „definitiv etwas umstellen“. „Ich will etwas runterfahren, nicht mehr so den Stress haben“, sagt Haimerl. „Im Gegensatz zu Norwegen ist hier ist alles viel zu hektisch.“

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