Blick hinter die „Tagesschau“-Kulissen: „Der Meinungskorridor wird enger“
Wie neutral ist die ARD-„Tagesschau“? Ein neues Buch will Einblick in die Redaktion geben. Merkur.de liefert eine Kostprobe.
Sie ist das Flaggschiff öffentlich-rechtlicher Nachrichten in Deutschland: „Sachlich“ und „neutral“ soll die ARD-„Tagesschau“ informieren – und meist über neun Millionen Menschen schauen bei der 20-Uhr-Ausgabe zu. Dennoch: Der Nachrichtenriese polarisiert mittlerweile. Ob das an politisch verhärteten Fronten liegt, oder am journalistischen Vorgehen? Ansichtssache.
Futter für die Debatte liefert ein neues Buch. Alexander Teske hat sechs Jahre lang in der Hamburger „Tagesschau“-Redaktion gearbeitet und die Themen der Sendungen geplant. In „Inside Tagesschau“ (LMV, 22,- €) schildert er seine Erfahrungen und seinen Blick auf die Arbeitsweise. Teils mit harten Urteilen und erstaunlich anmutenden Anekdoten. Teils aber auch mit Verwunderung über gegen die „Tagesschau“ gerichtete Vorwürfe und Verschwörungstheorien. Der Untertitel des Buches – „zwischen Nachrichten und Meinungsmache“ – deutet es an.

Eine Kernfrage lautet, wie neutral die Tagesschau wirklich berichtet. Unter anderem im Kapitel „Der Meinungskorridor wird enger“ bearbeitet „Inside Tagesschau“ dieses dicke Brett. Etwa mit Blick auf den Umgang einzelner ARD-Leute mit den Grünen oder auf interne Debatten über den Umgang mit der AfD. Bei Merkur.de gibt es die Passage als Kostprobe zu lesen. Eine entscheidende Frage dürfte die nach festen Maßstäben bei der Berichterstattung sein – im Interview mit unserer Redaktion erzählt Teske mehr dazu.
Auszug aus „Inside Tagesschau“ von Alexander Teske: „Der Meinungskorridor wird enger“
„Habe ich am ersten Tag bei der Tagesschau eine Broschüre oder einen Link bekommen mit dem Selbstverständnis der Tagesschau? Gab es in den folgenden Tagen einen Vortrag oder ein Gespräch mit der Chefredaktion zu den Zielen und der Arbeitsweise der Redaktion? Ich habe zahlreiche Papiere erhalten – in ‚Herzlich willkommen!‘ ging es um eine mögliche Parkplakette für das Auto, die Öffnungszeiten der Kantine oder Lagepläne der Gebäude. In der Dienstanweisung fand sich die Regelung für Tätigkeiten außerhalb des NDR, wurde ich über die Verwendung von Pseudonymen, den Einsatz von Musiktiteln und schriftstellerische Tätigkeiten aufgeklärt. Auf ein Statut, wer wir sind und was die Grundprinzipien unserer Arbeit sind, wartete ich vergebens.
Überrascht war ich nicht: Auch als ich beim MDR erstmals öffentlich-rechtlichen Boden betreten hatte, gab es kein Redaktionsstatut oder Ähnliches. Überrascht bin ich aber immer wieder über die Führungskräfte der ARD, die in Interviews vom Selbstverständnis öffentlich-rechtlicher Sender reden. Ganz so, als seien wir alle beim täglichen Morgenappell darauf eingeschworen worden. Nein, unsere Arbeit haben wir immer nach Gefühl erledigt, einen festgesteckten Rahmen gibt es dafür nicht. Und darin haben sich Tagesschau und MDR nicht von privaten Medien unterschieden, bei denen ich gearbeitet habe.
Unabhängig und sachlich?
Meine news
Auf tagesschau.de kann man unter der Rubrik »Über uns« ein wenig von dem Vermissten nachlesen. Aufgabe sei es, »sachlich, knapp und genau über die Ereignisse des Tages zu berichten.« Man wolle »umfassend, neutral und journalistisch kompetent« informieren. Die »Meldungen und Filmtexte« sollten »aktuell, knapp und präzise sein – aber dabei auch umfassend und unparteiisch.«
Unklar ist, seit wann es den Text gibt, wer ihn geschrieben und abgesegnet hat. Eine Diskussion in der Redaktion darüber hat es zwischen 2018 und 2023 nicht gegeben. Später werden in dem Text Rundfunkgesetze bzw. -staatsverträge zitiert. Demnach müssten »Informationssendungen unabhängig und sachlich« sein. »Nachrichten« müssten »vor ihrer Verbreitung mit der nach den Umständen gebotenen Sorgfalt auf Wahrheit und Herkunft« geprüft werden. Dabei seien »Objektivität und Fakten« maßgeblich.
Zugleich sei »aber klar, dass allein schon in der Auswahl der Themen eine redaktionelle Gewichtung liegt. Umso wichtiger sei, »dass die journalistisch ausgewählten Sachverhalte möglichst vollständig und neutral dargestellt werden … Persönliche Meinungen haben in einer Nachrichtenmeldung nichts zu suchen.«
Der letzte Satz lässt sich leicht umgehen. Man sucht sich einfach einen Zitatgeber, der die eigene Meinung im Beitrag wiedergibt. Man könnte auch einen finden, der das Gegenteil sagt. Aber den zitiert man nicht.
Der damalige Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier meinte dazu: »Vielfalt ist einer der Schlüssel für die Akzeptanz von Medien. Die Leser müssen das Gefühl haben, dass sie nicht einer einzelnen Meinung ausgesetzt sind. Reicht die Vielfalt in Deutschland aus? Wenn ich morgens manchmal durch den Pressespiegel meines Hauses blättere, habe ich das Gefühl: Der Meinungskorridor war schon mal breiter. Es gibt eine erstaunliche Homogenität in deutschen Redaktionen, wenn sie Informationen gewichten und einordnen. Der Konformitätsdruck in den Köpfen der Journalisten scheint mir ziemlich hoch. Das Meinungsspektrum draußen im Lande ist oft erheblich breiter.« Ich fürchte, das Problem ist in den vergangenen zehn Jahren nicht kleiner geworden.
Frontal hieß ein Politik-Magazin, welches zwischen 1993 und 2000 im ZDF ausgestrahlt wurde. Ich war Fan. Es gab zwei Moderatoren – Hauser und Kienzle. Der eine vertrat konservative Ansichten, der andere sozialdemokratische. Der Zoff zwischen beiden war nicht gespielt, oft lustig und diente dem Austausch von Argumenten. Es wurde das Zuhören im besten Sinne zelebriert. Wäre so eine Sendung heute noch möglich? Oder sind heute alle Kienzle?
Schon im Oktober 2015 irritierte mich Ulrich Adrian, Leiter des ARD-Korrespondentenbüros in Warschau und Autor zahlreicher Tagesschau-Beiträge, mit einem Tweet auf Twitter vor der Parlamentswahl im Nachbarland: »Gleich werden wir sehen, ob die Polen wirklich so dumm sind und die Rechten wählen. Sie würden es bitter bereuen.« Er habe sich, rechtfertigt er sich später, Sorgen gemacht, »dass Europa immer weiter nach rechts rückt«. Vom »Rechtsruck« zu reden ist beliebt. Gerade wird er wieder nach der Europawahl 2024 bemüht. Ich habe allerdings in den vergangenen Jahren schon so oft einen Rechtsruck miterlebt, dass rechts gar kein Platz mehr sein dürfte.
Tina Hassel ist eine einflussreiche journalistische Stimme, nicht nur in der Tagesschau. Erst berichtete sie aus Paris und Washington und war neun Jahre lang Leiterin des ARD-Hauptstadtstudios, heute ist sie Leiterin des ARD-Büros in Brüssel. Ihre politische Grundeinstellung offenbarte sie mit ihren Tweets auf Twitter, heute X. »Neuer grüner Star Habeck zum Vorsitzenden gewählt mit 81,3%! Starkes Ergebnis«, schrieb sie beispielsweise von der Bundesdelegiertenkonferenz 2018 von Bündnis 90/Die Grünen. Und zwar nicht als Privatperson, sondern erkennbar in ihrer damaligen Funktion als Leiterin des ARD-Hauptstadtstudios.
Wenig später legte sie nach: »Frische grüne Doppelspitze lässt Aufbruchsstimmung nicht nur in Frankreich spüren. Habeck und Baerbock werden wahrgenommen werden! Verantwortung kann auch Spaß machen und nicht nur Bürde sein. Wichtiges Signal in diesen Zeiten!« Nicht wenige User fragten daraufhin irritiert nach, ob sie sich damit als Pressesprecherin bei den Grünen bewerben wolle und wie sie das mit dem selbst auferlegten Neutralitätsgebot sowie der gesetzlich verankerten Objektivität und Überparteilichkeit vereinbaren könne.
»Sind ARD und ZDF zu links« fragt sich 2024 stellvertretend für viele die Kolumnistin Nena Brockhaus in Focus online: »Es besteht beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk Handlungsbedarf hin zur politischen Meinungspluralität, oder übersehe ich etwas in meinem Urteil?«. Sie wünscht sich zum Beispiel ein bundesweit bekanntes Gesicht, welches ein liberales, konservatives Gegengewicht zu Anja Reschke bildet.
O-Töne kommentieren?
Es gibt empirische Untersuchungen zu den Auswirkungen in der journalistischen Praxis. Markus Maurer von der Universität Mainz hat Anfang 2024 eine dazu mit dem Titel »Fehlt da was? Perspektivenvielfalt in den öffentlich-rechtlichen Nachrichtenformaten« veröffentlicht. Interessant ist, wie Medien darüber berichteten. Alles, was wir über Medien wissen, erfahren wir ja ebenfalls aus Medien. Sie berichten in eigener Sache. Und das selektiv, wollen sie doch ihr Image nicht beschädigen. So griffen sich Journalisten aus der Studie folgenden Aspekt heraus: Öffentlich-rechtliche Medien berichten wenig anders als private Medien. Schlimm genug, aber was nicht erwähnt wird: Maurer bescheinigt allen Medien einen Linksdrall. Und was ebenfalls unter den Tisch fällt: Es kommen fast nur Akteure der Elite zu Wort, vor allem der politischen. Menschen mit Migrationshintergrund, Arme, Behinderte oder Ostdeutsche dürfen dagegen so gut wie nie mitreden.
Ende Oktober 2018 entbrennt in der Konferenz der Tagesschau eine Diskussion, ob man Originaltöne von AfD-Politikern in Beiträgen unkommentiert senden könne oder sie einordnen muss. Letzteres möchte gern der WDR. Er hat dies auf der Chefredakteurskonferenz beantragt. Mit der Begründung, die Töne seien teilweise offenkundig falsch, verbreiteten alternative Fakten, was man abfangen müsse. Ich bin überrascht. Die Haltung ist veraltet. Mittlerweile hat man sich mehrheitlich für einen gelassenen Umgang entschieden.
Würde man das umsetzen, müsste man die Aussagen anderer Parteien ebenfalls einordnen. In einer Bundestagsdebatte widersprechen sich Aussagen der LINKEN und der CDU fundamental. Wer gibt hier den Schiedsrichter? Auch Lobbyverbände, Gewerkschaften und Industrieverbände bedienen sich des Mittels der Übertreibung. Anfang 2024 kamen reihenweise Landwirte zu Wort, die sich drastisch äußerten. Ihren Aussagen zufolge nagen Bauern am Hungertuch. Das passt wenig zu aktuellen Zahlen, nach denen ein Hof im Schnitt 114 000 Euro Gewinn einfährt. Müsste man diese Aussagen auch richtigstellen?
Oder nehmen wir den Tarifkonflikt bei der Bahn. Gewerkschaft und Bahn stellen konträre Behauptungen auf. Beide Sichtweisen werden gesendet, obwohl beide nicht Recht haben können. Aber wer legt fest, was ohne Einordnung gesagt werden darf? Und warum sollen bei der AfD andere Maßstäbe gelten?
Die Einordnung der Originaltöne würde auch den Rahmen sprengen. Der typische Nachrichtenbeitrag ist 90 Sekunden lang. Abzüglich von zwei Fremd-O-Tönen á 15 Sekunden bleiben 60 Sekunden für den Text. Das sind nur wenige Sätze, bei denen jedes überflüssige Wort stört. Offenkundig falsche O-Töne der AfD muss man gar nicht erst senden. Meist gibt es mehrere zur Auswahl, da sollte immer etwas Sendbares dabei sein. Manchmal ist die Faktenlage auch nicht so eindeutig, hat die Aussage einen kleinen wahren Kern und wird nur polemisch umgedeutet. Diese Vorgehensweise haben die Rechtspopulisten nicht exklusiv.
Der damalige Chefredakteur Gniffke und die anwesenden Chefs vom Dienst sehen das ähnlich, sind gegen eine verbindliche Einordnung von Tönen der AfD in der Tagesschau. Allerdings sind die meisten Redakteure ohnehin der Ansicht, die AfD müsse am besten ignoriert werden. Gniffke meint: Die AfD werde auf das Thema Zuwanderung reduziert und komme bei anderen Sachthemen kaum vor. Das solle man ändern und mal einen Ton der Grünen zugunsten der AfD weglassen. Denn gemessen an der Größe ihrer Fraktion im Bundestag sei sie in der Berichterstattung unterrepräsentiert. »Und zwar dramatisch!« Ein Redakteur widerspricht: »Ach ja, mein Gefühl ist genau andersherum, sie kommt zu oft vor.« Darauf Gniffke: »Das Hauptstadtstudio hat penibel Strichliste geführt. Und die hat klare Zahlen geliefert.«
Fünf Jahre später muss ich konstatieren: Der Appell Gniffkes verpuffte. Die Tagesschau hat die AfD kaum mit Sachthemen vorkommen lassen. Das Ergebnis: Die AfD wurde immer stärker. Es ist das Gegenteil des gewünschten Effekts eingetreten. Eine Entzauberung kann nur stattfinden, wenn dem mündigen Bürger Fakten geliefert werden. Doch so ist vielen Wählern kaum bekannt, welche Positionen die AfD zur Rente, zum Mindestlohn, zur Wohnungsnot, zur Vermögensbesteuerung, der Krankenversicherung oder dem Bürgergeld vertritt.
In der Praxis sieht das so aus: Mitte April 2023 erhält Ex-Kanzlerin Merkel das Großkreuz des Verdienstordens in besonderer Ausführung – die höchste Auszeichnung der Bundesrepublik. In der Nachricht der Tagesschau wird die Kritik daran von CDU, FDP und Linken erwähnt. Die AfD findet nicht statt. Sie ist aber zu diesem Zeitpunkt die zweitgrößte Oppositionspartei im Land. Und sie hatte sich zur Merkel-Ehrung geäußert.“