Für drohende Sommer-Offensive: Putins Armee macht Jagd auf Reservisten

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Russland gehen die Soldaten aus, und der Kreml hebt jetzt weiter aus – in Unternehmen und Universitäten. Dort wird auch schon das Exerzieren geübt.

Moskau – „Die Zahl der verwundeten und getöteten Soldaten lag bei 983 pro Tag im gesamten Februar“, sagt ein westlicher Beobachter aktuell zur Höhe der Verluste von Wladimir Putins Truppen im Ukraine-Krieg. Insgesamt bezifferte die anonyme Quelle der Frankfurter Allgemeinen Zeitung die russischen Verluste seit Februar 2022 auf „mehr als 350.000 Soldaten“. „Die partielle und verdeckte Mobilmachung hat es erlaubt, diese Verluste in etwa auszugleichen“, fügt der Informant hinzu. Moskau handelt jetzt, wie das unabhängige russische Medium The Moscow Times schreibt.

Militärkommissariate in der Region Moskau versandten demnach an Unternehmen eine Flut von Briefen, in denen sie diese auffordern, Listen vorzulegen von männlichen Mitarbeitern, die für den Reservedienst in Frage kommen. Die Moscow Times beruft sich auf russische militärische Quellen, nach denen seit Anfang dieses Jahres 100.000 Vertragssoldaten rekrutiert worden seien. Allerdings ist das noch zu wenig. Russland bezahlt jeden Schritt auf ukrainischem Boden mit einem hohen Blutzoll. Die Verluste haben bisher allerdings auch vergleichsweise wenig gebracht.

Russlands Materialschlacht: Kaum ein Vorwärtskommen unter erheblichen Verlusten

Beobachter des Thinktanks Institute for the Study of War (ISW) sehen die Lage zwar kritisch: „Die zunehmend wirksamen russischen Angriffe in der Ukraine drohen die langfristigen Kriegsführungsfähigkeiten der Ukraine einzuschränken und schaffen die Voraussetzungen dafür, dass Russland auf dem Schlachtfeld erhebliche Gewinne erzielen kann.“ Allerdings sei der Landgewinn der russischen Aggressoren im Verhältnis weiterhin klein, sagt Generalmajor Christian Freuding im Bundeswehr-Podcast Nachgefragt: „Seit Jahresbeginn ist es den russischen Streitkräften gelungen, ungefähr 300 Quadratkilometer Raum zu nehmen – das ist ungefähr die Größe von Leipzig. Also insgesamt recht marginale Geländegewinne unter Inkaufnahme erheblicher Verluste und Materialaufwendungen.“

Für die Moscow Times ein Zeichen, „dass die Masseneinberufungen zu Schulungen ein Versuch sein könnten, die schleppende Rekrutierung von Freiwilligen auszugleichen, oder ein Schritt in Richtung einer Großoffensive in der Ukraine, da Russland versucht, aus der zunehmenden Munitionsknappheit Kiews Kapital zu schlagen“ wie sie schreibt. „In meinem Unternehmen könnten mehr als 20 Prozent der 1.000 Mitarbeiter zum Militärdienst abgezogen werden. So viele fallen unter die Kriterien“, sagte ein leitender Manager eines Industrieunternehmens im Nordwesten der Region Moskau gegenüber dem Medium.

In den Monaten vor der Präsidentenwahl ist der Kreml Gerüchten einer weiteren Welle der Mobilisierung entschieden entge­gengetreten; nach der Bestätigung Putins im Amt wird in Russland offenbar offener von Krieg gesprochen – die Frankfurter Allgemeine Zeitung titelt, dass der Kreml eine „innere Mobilisierung“ fordere. Jetzt könnte also folgen, was westliche Beobachter schon seit Ende vergangenen Jahres erwarten: die nächste Mobilisierungswelle nach rund 300.000 rekrutierten russischen Männern im ersten Kriegsjahr.

Putins stille Reserve: Tausende Angestellte und Studierende

Auch Führungskräfte dreier weiterer Betriebe und Firmen im westlichen und nördlichen Moskauer Gebiet bestätigten der Moscow Times den Erhalt von Anfragen von Einberufungsämtern nach detaillierten Daten ihrer Mitarbeiter. „Möglicherweise müssen wir auch den Betrieb für eine Weile einstellen“, sagte ein leitender Manager eines mehr als 100 Kilometer von Moskau entfernten Unternehmens. Die Männer sollen dann wahrscheinlich zu Übungen eingezogen werden – das ist in Russland ein jährlich wiederkehrendes Verfahren und an sich also nichts Besonderes. Die Zunahme der Einberufungen zur militärischen Ausbildung signalisiere aber, dass die Behörden das Niveau der Kampfausbildung und den Zusammenhalt der Reserven des Landes erhöhen und das Verfahren an sich perfektionieren wollen, sagte der israelische Militärexperte David Sharp gegenüber der Moscow Times.

Russische Soldaten demonstrieren die Handhabung eines Kalashnikow-Sturmgewehres während einer Gedenkfeier für gefallene Veteranen.
Teil des Alltags in Russland: Soldaten demonstrieren die Handhabung des russischen Standard-Sturmgewehrs während einer aktuellen Gedenkfeier für Veteranen. © IMAGO/Vitaly Timkiv

Nach unbestätigten Quellen soll Russland über rund 21 Millionen Männer in einem wehrfähigen Alter verfügen; laut der Militärreform 2008 hatte Russland seine Truppenstärke unter Waffen auf eine Million reduzieren wollen, der generelle Ausbildungs- sowie Ausrüstungsstand ist unbekannt. Bisher hatte der Kreml seine Armee durch Vertragssoldaten aufgestockt – beispielsweise auch durch Milizen, wie die der Wagner-Söldner. Auch Kriminelle sollen gegen Straferlass rekrutiert worden sein. Die Alternative dazu, so Sharp, bestünde darin, dass der Kreml entscheidet, dass er seine ehrgeizigen Ziele durch eine drastische Aufstockung der Armeestärke erreichen kann. Dann wäre aber kaum zu vermeiden, offen von Krieg zu sprechen.

Russische Doktrin: Verpflichtung der Studierenden zu „patriotischem“ Paintball

Auch an den Universitäten wird rekrutiert beziehungsweise vorgeformt, wie in der von der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen aktuell herausgegebenen Länderanalyse über Russland beschrieben wird – laut deren Autoren sichern sich russische Behörden seit Beginn des russischen Einmarsches in die Ukraine den intellektuellen wie physischen Nachwuchs: Demnach wollen die russischen Behörden die Zahl der Studierenden, die die Entwicklung von Drohnen erlernen, bis 2025 auf 40.000 und bis 2030 auf 180.000 erhöhen. Universitäten werben bereits um Studierende, die die Bedienung von Drohnen erlernen sollen. In St. Petersburg beispielsweise eröffnen die Polytechnische und die Elektrotechnische Universität (LETI) sowie die Staatliche Universität für Telekommunikation gesonderte Abteilungen und Fakultäten für Drohnenspezialisten.

In Tatarstan werden der Analyse zufolge minderjährige Studierende des „Alabuga Polytechnic“-Ausbildungszentrums gezwungen, in Russland unter iranischer Lizenz hergestellte Shahed-Drohnen zusammenzubauen. Die Überstunden würden den Studierenden demnach nicht bezahlt. Außerdem würden die Studierenden dazu angehalten, „patriotisches Paintball“ zu spielen, bei dem sie auf „Faschisten“ mit Nato-Symbolen auf ihren Flaggen schießen.

Putins Vision: 750.000 Vertragssoldaten in diesem Jahr

Bereits Ende des ersten Kriegsjahres habe das russische Ministerium für Bildung und Wissenschaft den Universitäten offenbar empfohlen, von September 2023 an den gemeinsam mit dem Verteidigungsministerium entwickelten Kurs „Grundlagen der militärischen Ausbildung“ in den Lehrplan aufzunehmen – offen für beide Geschlechter. In diesem bauen die Studierenden ein Kalaschnikow-Sturmgewehr zusammen, bereiten sich auf den Einsatz von Granaten im Gefecht vor, studieren die Statuten der Streitkräfte der Russischen Föderation und lernen die Grundlagen der Formationsausbildung kennen – anders gesagt: Sie werden gedrillt.

Wie Bloomberg berichtet wollte der Kreml im vergangenen Jahr 400.000 Männer aus ganz Russland als Vertragssoldaten rekrutiert haben, und die Moscow Times schließt aus verschiedenen Quellen des russischen Militärs, dass in diesem Jahr eine ähnliche Zahl erreicht werden soll. Im Oktober sagte der frühere Präsident Dmitri Medwedew, 305.000 Männer hätten Verträge mit dem Miltär unterzeichnet und 80.000 hätten sich als freiwillige Kämpfer gemeldet.

Der russische Verteidigungsminister Sergej Schoigu sagte im vergangenen Jahr laut Moscow Times, dass das Militär im Jahr 2024 die Rekrutierung von fast 750.000 Vertragssoldaten plane. Laut Experten, die das ZDF zitiert, herrsche weder in der Ukraine noch in der Russischen Föderation ein Mangel an Männern – oder Frauen – die einzuziehen wären; dennoch werde sich ein immer größerer Unterschied herauskristallisieren, der sich bereits jetzt abzeichnet. Dieser Unterschied zeige sich in der Qualität und dem Niveau der Ausbildung der neuen Soldaten. Sowohl Russland als auch die Ukraine haben Zehntausende von erfahrenen Soldaten verloren, die getötet wurden, Hunderttausende wurden verwundet.

Nach Meinung des deutschen Politikberaters Nico Lange gegenüber dem ZDF sei die Annahme, Russland habe unendlich viele Soldaten schlicht ein „Mythos“. (Karsten Hinzmann)

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