Nawalny – ein Märtyrer? Experten ordnen Tod des Kremlkritikers ein
Nawalny war für Putin selbst im Gefängnis noch eine Gefahr. Kann es in Russland nach seinem Tod zu Protesten kommen?
Rochester – „Putin ist paranoid, wenn es um Kritik geht“: So ordnet der Politikwissenschaftler Randall Stone die aktuelle Lage ein. In den Großstädten habe der russische Präsident an Unterstützung eingebüßt und sein Regime sei anfällig. Die „Farbrevolutionen“, also die politischen Umstürze in vielen ehemaligen Sowjetstaaten in Russlands Umfeld Anfang der 2000er, hätten Wladimir Putin gezeigt, wie schnell ein Autokrat seinen Thron verlieren könne. Stone arbeitet mit Fokus auf Polen und Zentraleuropa an der amerikanischen Universität Rochester.
Politik-Experte: „Das Militär wird Putin nicht den Rücken stärken“
Tatsächlich haben die Farbrevolutionen zwar kurzfristig einen Machtwechsel erwirkt. Doch nachhaltige demokratische Strukturen sind daraufhin in den wenigsten Ländern erwachsen. In der Ukraine wurde der 2004 nach aufgedecktem Wahlbetrug der unterlegene pro-russische Präsidentschaftsanwärter Wiktor Janukowytsch sechs Jahre später doch noch Präsident – nur, um bei den Maidan-Protesten 2014 ins Exil gejagt zu werden. Für viele hoffnungsvolle Dissidentinnen und Dissidenten in den post-sowjetischen Ländern sind die gescheiterte Umsturzversuche eine Ernüchterung.
Sollte es in Russland dennoch zu größeren Protesten kommen – und auch das ist strittig – müssten die Demonstrierenden das Militär auf ihre Seite ziehen. Verteidigungsminister Sergej Schoigu und Oberbefehlshaber Valerij Gerassimow gelten als unbeliebt, diesen Umstand hatte schon der bei einem Flugzeugabsturz getötete Anführer der Söldnertruppe Wagner, Jewgeni Prigoschin, bei seinem Marsch auf Moskau letzten Sommer genutzt. Auch Stone meint: „Das Militär wird Putin nicht den Rücken stärken, falls es zu einer großen Protestbewegung kommt“, heißt es in einer aktuellen Mitteilung von Stones Universität.
Nawalny war auch im Gefängnis eine Gefahr für den Kreml
Alexej Nawalny war für Putin stets der leise Wind, der das Kartenhaus sogar aus dem Gefängnis heraus zum Wackeln brachte. Am vergangenen Freitag ist er unter ungeklärten Umständen in einem Straflager nördlich des Polarkreises verstorben. Für die kommende Wahl – die für den Kremlherrscher ein wichtiger Propaganda-Stunt ist, um der Welt seine Legitimität zu beweisen – hatte Nawalnys Team bereits zu Protesten aufgerufen. Zweifelsohne wird der russische Sicherheitsdienst diese brutal niederschlagen. Doch: Wenn Krieg oder Wirtschaftskrisen an der Struktur eines Systems nagen, können solche Repressionen nach hinten losgehen, meint Matthew Lenoe, Geschichtsprofessor an der Universität Rochester.
Ölverkäufe spülen zwar aktuell ungeahnte Mengen Geld in Russlands Kassen. Doch die massive Abwanderung hoch qualifizierter Fachkräfte könnte sich langfristig zu einem schwer lösbaren Problem entwickeln. Dieses „Wählen mit den Füßen“ zeigt auch: Große Teile der Bevölkerung – manche Statistiker beziffern die Zahl der Emigrierten bei fast einer Million – sind unzufrieden, sei es wegen der wirtschaftlichen Entwicklung oder wegen des Ukraine-Kriegs.

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„Nawalny wird eine Inspiration sein für oppositionelle Bewegungen in Russland“
Diese Unzufriedenheit könnte laut den Wissenschaftlern in Rochester Momentum generieren. Nawalny selbst hatte zu seiner potenziellen Ermordung einst gesagt: „Wenn sie sich dazu entschieden haben, mich zu töten, heißt das, dass wir unglaublich stark sind“. Auch Lenoe ist sich sicher: „Auf lange Sicht wird man sich an Nawalny als einen Märtyrer erinnern. Er wird eine Inspiration sein für oppositionelle Bewegungen“. Nawalnys Tod werde die kremlkritischen Kräfte verschmelzen. „Alexejs Frau, Julija Nawalnaja, tut sich bereits als wichtigen Fokuspunkt der Opposition hervor“.
Dass Putin Nawalny öffentlichkeitswirksam zur Münchner Sicherheitskonferenz und genau einen Monat vor den Präsidentschaftswahlen in Russland umgebracht hat, ist wohl strategisches Kalkül. Er zeigt, dass es für Dissidentinnen und Dissidenten in seinem Reich keine Gnade gibt und keine Hoffnung auf Veränderung. Wer auch immer sich ihm entgegenstellt, muss mit Verfolgung bis in den Tod rechnen. Nawalny ist dafür ein offensichtliches Exempel. (ah)