Brandmauer und hart-linke Richterin: Merz steckt in einem heiklen Doppel-Dilemma

Bundesverfassungsrichter sind in der breiten Öffentlichkeit unbekannt, und das hat seinen Sinn. Obwohl ihr Einfluss auf Deutschlands Politik immens ist, sind sie nicht Teil des parteipolitischen Meinungskampfs.

Die Richter halten sich öffentlich zurück, das gehört nicht nur zum guten Ton, sondern bewahrt eine der wichtigsten deutschen Institutionen vor dessen Parteipolitisierung – und damit vor seiner Banalisierung.

Verfassungsrichter werden zum politischen Neutrum

Die Verfassungsrichter haben das letzte Wort, deshalb gibt es weder einen CDU-Richter noch einen SPD-Richter. Auch Parteimenschen, die früher einmal Ministerpräsidenten waren, wie Peter Müller, werden als Verfassungsrichter zum politischen Neutrum.

Der letzte, der wirklich einmal in die Schlagzeilen geriet, weil er in einem laufenden (Corona-)Verfahren mit der Bundeskanzlerin Angela Merkel an deren Dienstsitz dinierte, überstand einen Befangenheitsantrag praktisch folgenlos. Von Stephan Harbarth hat man seitdem nichts mehr Anrüchiges gehört.

Dass man diese Menschen eher nicht kennt, dass sie nicht Teil des täglichen Schlachtengetümmels in Berlin sind, beschert den Karlsruher Richtern eine unerreichte Glaubwürdigkeit: 80 Prozent der Deutschen vertrauen dem Bundesverfassungsgericht.

Problem 1 für Merz: Eine umstrittene SPD-Kandidatin 

Mit „Karlsruhe“ läuft es eben nicht so wie mit der Justiz in den USA, die der Präsident Donald Trump sich quasi untertan machen will. Was auch Viktor Orban in Ungarn nachgesagt wird. Voraussetzung dafür ist: die Richter geraten nicht in den Parteienstreit. Genau das passiert aber gerade. Und zwar, weil die SPD eine Kandidatin vorgeschlagen hat, die durchaus kämpferisch ausgesprochen linke Positionen vertritt.

Pikant wird die Spitzenpersonalie dadurch, dass der Bundeskanzler sie durchgewunken hat. Demgegenüber nennt die CDU-Bundestagsabgeordnete Saskia Ludwig die Rechtsprofessorin Frauke Brosius Gersdorf glatt „unwählbar“.

Für Kanzler Friedrich Merz ist die Angelegenheit politisch delikat. Denn Merz hatte schon einmal einen Kandidaten benannt für die Wahl an Deutschlands wichtigstes Gericht. Robert Seegmüller, und der war von den Grünen für unwählbar erklärt worden. Und daraufhin nahm Merz „seinen“ Mann aus dem Rennen.

Merz hatte bei pikanter Personalie nachgegeben

Pikant ist, was die Grünen an Seegmüller auszusetzen hatten: Der Spitzenjurist hatte sich im Kampf zwischen Angela Merkel und Horst Seehofer um die Verschärfung des Asylrechts auf die Seite des Bundesinnenministers geschlagen und dabei für die Rechtmäßigkeit von Zurückweisungen an der Grenze plädiert. Also genau das für mit dem deutschen Grundgesetz für vereinbar erklärt, was jetzt der Seehofer-Nachfolger Alexander Dobrindt veranlasst hat. Und doch hat die Union, Merz, bei dieser Personalie nachgegeben.

Aus staatsmännischen Gründen – ein Kandidat für das Richteramt am Bundesverfassungsgericht sollte nicht in den Parteienstreit geraten. Das aber passiert gerade mit der Kandidatin der SPD. Etliche Unionsabgeordnete tun sich schwer mit Frauke Brosius Gersdorf, wie viele es genau sind, ist unklar.

Für Merz ist das ein Problem: die Richterwahl ist für die kommende Woche angesetzt und der Kanzler muss entscheiden: Zwischen Koalitionsräson und Unionsinteresse. Das Timing könnte für den Kanzler schlechter kaum sein.

Problem Nummer 2: Merz braucht Stimmen von der Linkspartei

Denn erst gerade hat Merz die Koalitionsräson vor das CDU-Interesse gesetzt – und die Senkung der Stromsteuer ganz im Sinn seines Bundesfinanzministers entschieden, des gerade von seinem Parteitag demontierten Parteivorsitzenden Lars Klingbeil.

Macht Merz das – um des lieben Friedens willen in seiner Koalition mit den Sozialdemokraten bei der Richterwahl jetzt noch einmal? Viele in seiner eigenen Fraktion würden das als „Zumutung“ empfinden.

Zusätzlich kompliziert wird die Lage für Merz dadurch, dass er Stimmen von der Linkspartei braucht, denn: die Richter werden mit Zweidrittelmehrheit im Bundestag gewählt. Und Zweidrittel bringen weder die schwache Union noch die noch schwächere SPD auf die Waage.

Weil Merz jede Zusammenarbeit mit der AfD ausgeschlossen hat, weil er an der sogenannten Brandmauer festhält, ist er nun auf die Hilfe der Linkspartei angewiesen. Und die verlangt nun einen Preis: Sie will selbst mit einem Richter in Karlsruhe vertreten sein, was Jan van Aken, der Chef der Linkspartei, auch öffentlich machte.

Union: Unvereinbarkeitsbeschluss mit AfD und Linken

Die Union hat einen Unvereinbarkeitsbeschluss mit der AfD wie mit der Linken, wobei man inzwischen feststellen kann, dass ihr Umgang mit der AfD von feindlicher Abgrenzung, der mit der Linkspartei von distanziertem Respekt geprägt ist.

Zuletzt half die Linkspartei Merz beim zweiten Wahlgang zur Kanzlerwahl. Die Union wählte zwar nicht die dort für sirenenhaft gehaltene Heidi Reichinneck ins Parlamentarische Kontrollgremium, dafür aber Dietmar Bartsch in das Vertrauensgremium, in dem die Wirtschaftspläne für die Geheimdienste gebilligt werden müssen. Bartsch war von den Linken Kandidaten der einzige mit SED-Vergangenheit, was man kurios finden kann.

Richter-Kandidatin mit klaren Äußerungen zu Abtreibung oder AfD-Verbot

Frauke Brosius-Gersdorf wird nun von Unionsmenschen und AfD-Repräsentanten mit ihren – öffentlich zugänglichen – Äußerungen zu mehreren Reizthemen konfrontiert. Von der Abtreibung bis zum AfD-Verbot. Letzteres ist heikel, weil die SPD auf ihrem jüngsten Parteitag beschlossen hat, ein solches Parteienverbot offensiv zu betreiben. Die AfD fragt spitz, ob die SPD nun eine dazu passende Richterin vorschlage.

Beispiel Abtreibung: Nach der Karlsruher Rechtsprechung gilt die grundgesetzlich garantierte Menschenwürde auch für das ungeborene Leben. Deshalb sind Abtreibungen grundsätzlich rechtswidrig und daher strafbar und nur in bestimmten Ausnahmefällen erlaubt.

Eine Kommission, die die Ampelregierung eingesetzt hatte, kam zuletzt zu einem ganz anderen Ergebnis – demnach sei eine grundsätzliche Legalisierung der Abtreibung nicht nur erlaubt, sondern sogar geboten. Mitglied der Kommission: Brosius-Gersdorf. Besonders dieser Satz erregte die Gemüter, etwa der Christdemokraten: „Ob dem Embryo und später Fetus der Schutz der Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes zukommt, das ist in der Tat in der Verfassungsrechtswissenschaft sehr umstritten. Meines Erachtens gibt es gute Gründe dafür, dass die Menschenwürdegarantie erst ab Geburt gilt.“ Sollte man wirklich Abtreibungen bis zur Geburt erlauben, also auch noch zu einem Zeitpunkt, an dem ein Fetus lebensfähig außerhalb des Mutterleibs ist?

„Verfassungsrechtlichen Pflicht“ zur Corona-Impfung

Brosius-Gersdorf geriet auch mit ihrer Forderung nach einer „verfassungsrechtlichen Pflicht“ zur Corona-Impfung ins Kreuzfeuer, wo sie allerdings beileibe nicht alleine war. In der Talkshow von Lanz fand sie Argumente für ein AfD-Verbotsverfahren, das die Unionsfraktion strikt ablehnt.

Brosius-Gersdorfs Feststellung, auch ein AfD-Verbot „beseitigt“ nicht deren Anhängerschaft, wurde hinterher so verstanden, als wolle sie die Anhänger der AfD tatsächlich „beseitigen“ – so war es allerdings nicht gemeint, die Professorin stellte das auch klar. Es ging allerdings im TV-Getümmel mehr oder weniger unter.

In der Führung der Unionsfraktion gibt es die Sorge, Frauke Brosius-Gersdorf könnte, „aktivistisch“, wie sie sich gebe, das „Ansehen unseres höchsten Gerichts“ beschädigen. „Karlsruhe“ ist eine der wenigen deutschen Institutionen, die noch das beinahe uneingeschränkte Vertrauen der Bevölkerung genießen.

Verzichtet die SPD auf diese spezielle Präsidentschaft?

Wie zu hören ist, wünscht sich die SPD, dass Brosius-Gersdorf eines Tages, wohl 2030, sogar Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts werden möge. Das ist für die Union ein „No go“. Hier scheint denn auch der Schlüssel für eine Lösung dieses komplizierten Falls zu liegen – verzichtet die SPD auf diese spezielle Präsidentschaft, könnte die Wahl doch noch gelingen.

Der Richterwahlausschuss ist eines der wenigen Gremien, die noch im parteiübergreifenden Konsens funktionieren. Und der soll, das sagen fast alle Beteiligten, erhalten bleiben. Wenn man einmal damit anfange, dass eine Partei der anderen die Kandidaten „wegschieße“, werde es für alle, vor allem aber für „Karlsruhe“, ein übles Ende nehmen.

Wer in der Union wird es nach Lage der Dinge am Ende entscheiden müssen? Das sei dann doch Sache des Fraktionsvorsitzenden, erklären Unionsleute. Der heikle Fall des nächsten sozialdemokratischen Verfassungsrichters hängt damit an: Jens Spahn.