"Fokus einseitig auf Klimaschutz": Bauexpertin zerpflückt Anti-Hitze-Strategie
Deutschland stöhnt unter der Hitzewelle, was kann in den Städten, wo der Asphalt kocht, getan werden, damit die Menschen sich dort bewegen können?
Lamia Messari-Becker: Die Hitzewelle ist ein Stresstest für Deutschland – und wir sind in dem Land der Ingenieure und Anlagentechnik dabei, den zu vergeigen. Wir haben viel zu lange den Fokus einseitig auf Klimaschutz gerichtet und dabei die Anpassung an den Klimawandel verpennt. Wir müssen die Menschen darauf vorbereiten, dass wir einen Teil des Klimawandels nicht mehr loswerden. Deswegen ist die Klimaanpassung mindestens so wichtig wie der Klimaschutz.
Expertin zu Hitze-Welle: "Bauen mit dem Klima, nicht gegen das Klima"
Was heißt Anpassung? Was können wir tun?
Messari-Becker: Es gibt drei Ebenen: Wir müssen kritische Infrastrukturen so schützen, dass sie bei Klimaextremen nicht zusammenbricht. Die Bahn darf nicht bei Hochwasser absaufen. Brücken müssen so gebaut werden, dass sie nicht von Flutwellen weggerissen werden. Krankenhäuser und Schulen müssen auch bei großer Hitze funktionieren.
Dazu kommen städtebauliche Korrekturen: Die Böden werden viel zu viel versiegelt. Wir müssen überlegen, wo wir welches Material einsetzen und wo wie wieder entsiegeln. Es gibt bereits heute Pflastersteine, die Wasser speichern können. Und: Wir dürfen keine Quartiere mehr bauen, wo wir keine Bäume, keine Schattenplätze haben.
Wasser muss zum Planungselement werden. Wir brauchen schattige Innenhöfe wie im Süden anstelle von Blockrandbebauungen. Und wir müssen Städte und Dörfer so bauen oder umbauen, dass natürliche Lüftungs- und Kühlungsschneisen nicht zugebaut werden. Also im Grunde genommen Bauen mit dem Klima, nicht gegen das Klima.
Wasser, Schatten, mehr Grün – das soll helfen?
Messari-Becker: Ja, und wo kein Wasser ist, müssen wir es hinführen, inklusive künstlichen Seen in der Stadt. Trinkbrunnen, Wasserspiele und Sprühnebel in den Fußgängerzonen, große Sonnenschirme, helle Farben für die Gebäude, die dann besser gegen Hitze schützen als dunkle.
Begrünte Dächer, grüne Fassaden, Flächen, die Wasser aufnehmen, speichern und später abgeben, anstatt, dass bei jedem Regenguss alles sofort in der Kanalisation verschwindet, Stichwort Schwammstadt.
"Bei der Wahl der Materialien müssen wir uns anpassen"
Wie sollten die Gebäude beschaffen sein?
Messari-Becker: Das geht los bei der Planung und Ausrichtung: Wo platziere ich welche Fenster? Früher gab es mal Dachüberstände über den Fenstern. Sie schützten vor Hitze und Regen. Heute wird so nicht mehr gebaut. Warum eigentlich?
Bei der Wahl der Materialien müssen wir uns anpassen: Mauerwerk und Beton bieten einen besseren Hitzeschutz als Holz. Baue ich mit Holz, was ein wunderbares Baumaterial mit anderen Stärken ist, sind gegebenenfalls ergänzende Maßnahmen vorzusehen.
Auch im Innenausbau ist es klug, speicherfähiges Material zu verbauen. Also lieber Fliesen als Parkett. Lieber grüne Gärten als Steingärten. Übrigens ließe sich eine Fußbodenheizung zur Fußbodenkühlung im Sommer umnutzen. Der technische Eingriff ist überschaubar. Und wenn das Risiko der Überhitzung immer noch bleibt, ist auch eine Klimaanlage keine blöde Idee.
Die dann jede Menge Strom frisst.
Messari-Becker: Es stimmt: Einen Raum, um ein Grad abzukühlen, kostet das Vierfache an Energie, wie wenn ich ihn um ein Grad heizen will. Deswegen müssen wir zuerst natürliche Ressourcen nutzen. Wir müssen mit kluger Architektur und Bauweise arbeiten. Eine Photovoltaik-Anlage am Gebäude könnte die Energie erzeugen, die bei Überhitzung für die Kühlung genutzt wird. Es geht um die intelligente Verknüpfung aktiver und passiver Maßnahmen.

"Vieles liegt in der Verantwortung der Bauherren"
Und das Ganze soll dann vorgeschrieben werden – also noch mehr Vorschriften im Bau. Ist das ihre Forderung?
Messari-Becker: Das muss nicht in Regulierung münden. Es gibt jetzt schon Hitzeaktionspläne für Kommunen, die mehr den Außenraum adressieren. Für die Gebäudeplanung ist kein Gesetz nötig. Es gibt Maßnahmen, die kosten nicht viel Planung und Regulierung.
Vieles liegt in der Verantwortung der Bauherren. Es gibt zahlreiche Gesetze für Wärmeschutz, Schallschutz und Energieeffizienz. Wir haben Vorgaben, um Temperaturen im Innenraum auf gewissen Niveaus zu halten. Aber wir haben kaum Vorgaben für Wetterextreme. Wir müssen Standards entwickeln, die Wetterextreme als neues Normal ansehen und wir müssen aufklären.
Aber nochmal: Das klingt alles nach neuen Vorschriften.
Messari-Becker: Wir haben schon jetzt mehr als 3000 Bauverordnungen. Wir müssen sie reformieren und reduzieren. Schauen Sie mal nach Holland: Das Baugesetzbuch kommt dort seit 2010 mit 25 Prozent weniger Regeln aus als früher. Viele Regelungen wurden komplett gestrichen. Das sorgt für Flexibilität, Geschwindigkeit und Baukostensenkung.
Unser Baurecht ist von gestern, und wir versuchen damit Ziele von morgen umzusetzen: Ressourceneffizienz, Klimaschutz, bezahlbares Bauen. Wir bauen derzeit 80 Prozent der Gebäudetypen auf Grundlage von etwa 20 Prozent der vorhandenen Gesetze. Das heißt: Wir haben extrem viele Einzelfall-Regelungen. Das ist natürlich nicht sinnvoll.
"Wir begehen kollektiven Selbstmord"
Wenn wir das alles berücksichtigen: Wird Bauen noch teurer?
Messari-Becker: Nicht unbedingt. Es gibt ein Infrastruktur-Sondervermögen. Da hinein müssen auch Klimaanpassungsmaßnahmen. Unsere Infrastruktur soll ja nicht nur ersetzt werden, sondern, besser, geschützter, klimaresilienter und damit langlebiger. Tun wir es nicht, ist es wie beim Unterlassen von Klimaschutz: Wir begehen kollektiven Selbstmord.
Dieser Beitrag erschien in Kooperation mit "Business Punk".