Enteignungen wie in Barcelona? So will die EU unsere Mieten senken
„Europa befindet sich in einer Wohnungskrise, von der Menschen jeden Alters und Familien jeder Größe betroffen sind“, sagte Ursula von der Leyen (CDU) zuletzt vor dem Europäischen Parlament. Deswegen sie jetzt einen Spezialisten daran gesetzt, diese Krise zu lösen: Dan Jorgensen. Der 49-jährige Däne wird in den kommenden fünf Jahren eine Schlüsselrolle in der Kommission der Union einnehmen. Er soll noch im November als Kommissar für Energie und Wohnen bestimmt werden, zwei Themen, die Bürgern in der EU wichtig sind. Während es Energiekommissare schon lange gibt, ist der Sozialdemokrat aus unserem nördlichen Nachbarland der erste, der explizit für das Thema Wohnen zuständig ist.
Der Grund ist simpel: Nicht nur Deutschland leidet an einer Wohnungskrise. Während hierzulande dieses Jahr wohl nur die Hälfte der von der Bundesregierung angepeilten 400.000 Wohnungen neu gebaut werden und bereits zwischen 700.000 und 900.000 Wohnungen fehlen, sieht es in anderen Ländern ähnlich aus. Spanien und Portugal etwa kämpfen mit hohen Leerstandsquoten, weil gerade in Großstädten viele Wohnungen als Spekulationsobjekt von Investoren gehalten werden mit Mieten, die sich Einheimische kaum leisten können. In Küstenregionen stehen viele Ferienhäuser die meiste Zeit des Jahres leer. In Amsterdam musste Studenten seit Jahren in Notunterkünften wohnen, weil sie nicht schnell genug eine bezahlbare Wohnung finden.
In vielen Ländern sind Wohnungen überfüllt
In Rumänien sind zum Beispiel die Wohnungen für 40,5 Prozent aller Einwohner, in Griechenland für 28 Prozent und in Italien für 25 Prozent überfüllt. Selbst Schweden liegt mit 17 Prozent über dem EU-Schnitt. Deutschland schneidet hier mit einer Quote von 11 Prozent noch gut ab, Sie können sich also den Zustand in anderen Ländern vorstellen. Zudem sinken die Neubauzahlen fast überall. Auf der Baukonferenz Euroconstruct wurden im Sommer Prognosen präsentiert, wonach in Deutschland dieses Jahr 15 Prozent weniger Neubauten entstehen werden als noch vor zwei Jahren. Falls Sie denken, das sei viel: In Schweden liegt der Rückgang bei 59 Prozent, in Finnland bei 56 Prozent, in Dänemark bei 45 Prozent und in Österreich bei 21 Prozent. Von den 19 europäischen Ländern, die Euroconstruct untersucht, wird lediglich in Irland, Spanien, Portugal und Italien mehr gebaut als noch 2022. Wie viele Wohnungen davon in den Mittelmeerländern aber reine Ferienwohnungen sind, ist nicht bekannt.
Besonders diese Zahlen soll Jorgensen in seiner Amtszeit verbessern. Er kann dabei keine Gesetze erlassen. Wohnungsbau bleibt eine Aufgabe der Nationalstaaten und ihrer Regierungen. Allerdings kann er Fördergelder der EU neu verteilen, Richtlinien aus anderen Ressorts so anpassen, dass sie dem Wohnungsbau nutzen, bürokratische Hürden abbauen, Regierungen beraten und ein Netzwerk aufbauen, dass dafür sorgt, dass sich Positiv-Beispiele aus manchen Staaten schnell in der EU verbreiten. Es gibt aber auch schon ganz konkrete Maßnahmen, die auf Jorgensens Tisch liegen – zum Beispiel:
1. Weniger Vorschriften
Bürokratieabbau ist nicht nur in Deutschland ein Thema, auch die EU liebt es, immer neue Regelungen zu erlassen. Damit soll im Wohnungsbau jetzt Schluss sein. Von der Leyen hat Jorgensen dafür ein konkretes Ziel gegeben. Er soll die Berichtspflichten für Immobilienunternehmen um mindestens 25 Prozent, für kleine und mittlere Unternehmen um mindestens 35 Prozent reduzieren. Dabei werden die Baufirmen etwa verpflichtet, detailliert die Nachhaltigkeit und Energieeffizienz neuer Gebäude nachzuweisen. Die Pflichten müssen erfüllt werden, damit Baukredite beantragt werden können. „Das erschwert den Zugang zu Finanzierung“, sagt etwa deutsche Bundesverband Freier Immobilien- und Wohnungsunternehmen. Dabei sollen aber nicht die Anforderungen sinken, Jorgensen soll die Gesetzgebung deutlich vereinfachen. Kompliziert ist sie heute unter anderem auch deswegen, weil hier viele Pflichten aus unterschiedlichen EU-Bereichen zusammenlaufen – weil es zuvor eben keinen Wohnkommissar gab. Müssen Immobilienunternehmen weniger Zeit, Energie und Geld auf Berichte verschwenden und kommen sie dadurch einfacher an Kredite, könnten sie auch mehr und günstiger bauen – so die Idee hinter der Maßnahme.
2. Förderung von Sozialwohnungen
Allein in Berlin leben geschätzt rund eine Million Menschen, die einkommenstechnisch Anspruch auf eine Sozialwohnung hätten. Eine solche wird vom Staat beim Bau gefördert, dafür gibt es eine Mietobergrenze und andere Regeln, die dafür sorgen sollen, dass hier Personen mit niedrigem Einkommen eine Wohnung finden. Doch in Berlin gibt es nur 100.000 solcher Wohnungen. In ganz Deutschland fehlen nach Schätzung des Mieterbundes rund 910.000 Sozialwohnungen. Europaweit gibt es keine einheitliche Definition einer Sozialwohnung. Die EU rechnet deswegen mit der Quote an Menschen, die mehr als 40 Prozent ihres Einkommens für Miete und Nebenkosten ausgeben müssen. Sie liegt in Deutschland mit 31 Prozent auf dem EU-Durchschnitt. Spitzenreiter ist Griechenland mit 54 Prozent vor Dänemark mit 39 Prozent und den Niederlanden mit 37 Prozent. Generell gilt, dass die Quoten in Großstädten und unter jungen Menschen deutlich höher sind.
Die EU kann selbst kaum den Bau von Sozialwohnungen fördern. Jorgensen kann aber Rahmenbedingungen ändern, wie einzelne Staaten dies tun können. Das Europäische Parlament schlug etwa bereits im Februar vor, bezahlbaren Wohnraum von gewissen Wettbewerbs- und Subventionsregeln auszunehmen, die staatliche Förderung bisher oft bremsen. Die Immobilienwirtschaft selbst, in Brüssel durch den Lobbyverband „Build Europe“ vertreten, würde gerne sozialen Wohnungsbau von der Umsatzsteuer befreien lassen. Das würde die Baukosten in Deutschland auf einen Schlag um 16 Prozent senken, den Staat aber auch Milliarden Euro an Steuereinnahmen kosten. Unwahrscheinlich, dass sich die 27 Mitgliedsstaaten darauf einigen könnten.
Was die EU direkt machen kann, ist, den Staaten mehr Gelder aus dem Kohäsionsfonds zur Verfügung zu stellen. Aus ihm werden wirtschaftlich schwächere EU-Staaten gefördert, bisher aber nur in den Bereichen Verkehr und Klimaschutz. Gebäude sollen dort nach Ansicht von von der Leyen ebenfalls einbezogen werden.
3. Vernetzung von Ländern
So wie jedes Land auf seine Art gegen die Wohnungskrise kämpft, so hat auch jedes Land andere Lösungsstrategien – manche wirken besser, andere schlechter. EU-Kommissar Jorgensen könnte hier als Vermittler wirken, also die Positivbeispiele in der Union bekannter machen. Derer gibt es viele. Österreichs Hauptstadt Wien ist etwa für den starken sozialen Wohnungsbau bekannt, hier leben rund 60 Prozent der Einwohner in öffentlich geförderten Wohnungen mit vergleichsweise niedrigen Mieten. Dänemark und die Schweiz fördern stark den Bau von Wohnungen durch Genossenschaften, bei denen die Mieter viel Mitspracherecht besitzen. Barcelona bekämpft den Leerstand damit, dass Wohnungen, die zwei Jahre lang nicht bewohnt werden, von der Stadt zwangsenteignet und verkauft werden. Auch die Umwandlung seit Corona leerstehender Bürogebäude in Wohnraum wird von der Stadt forciert. Paris schreibt Immobilienunternehmen vor, bei Neubauprojekten eine bestimmte Quote von Sozialwohnungen einbauen zu müssen. Das soll nicht nur sicherstellen, dass es bezahlbaren Wohnraum gibt, sondern auch die soziale Mischung der Viertel verbessern. Nicht jedes dieser Beispiele ließe sich beliebig auf Deutschland übertragen. Ein stärkerer Austausch der Fachpolitiker würde aber dazu führen, dass die Maßnahmen, die auch hier wirken könnten, schneller zu uns kommen.
4. Viele Wünsche aus verschiedenen Lobbygruppen prüfen
Weitere konkrete Pläne der EU-Kommission gibt es bis jetzt noch nicht. Der neue Kommissar Jorgensen ist schließlich nicht einmal offiziell im Amt. Vorschläge von Interessensgruppen, seien es Mieterbünde oder Immobilienverbände, gibt es aber viele. Die Verbände wünschen sich weniger Vorschriften im Rahmen der EU-Gebäuderichtlinie, die bis 2030 strenge Regeln zur Energieeffizienz festlegt, und weniger Baustandards. Der Deutsche Mieterbund etwa drängt auf eine Quote von 30 Prozent Sozialwohnungen an allen Wohnungen bis 2030 und auf maximale Wohnkosten von 25 Prozent des verfügbaren Einkommens – notfalls durch Staat und EU gefördert. Zudem sollen Investoren aus dem Markt gedrängt werden, damit Kaufpreise und Mieten nicht durch den Handel weiter steigen.