„In Staub verwandeln“: Russland und China zwingen Nato ins Hyperschall-Wettrüsten
Große Militärparade mit neuer Hyperschallwaffe – China stürmt im Wettrüsten vor. Analysten vermissen den Sinn; bessere Luftabwehr finden sie schlauer.
London – „Wir leben in einer gefährlicheren Welt, und es war für uns noch nie so wichtig, innovativ zu sein, unseren Gegnern immer einen Schritt voraus zu sein und unsere Streitkräfte mit den Technologien der Zukunft auszustatten“, sagte John Healey. Im April hat der britische Verteidigungsminister daran erinnert, dass der Osten und der Westen der Welt spätestens seit dem Ukraine-Krieg wieder im Rüstungswettlauf miteinander stehen. Mit der Oreschnik (Haselnussstrauch) hatte Wladimir Putin eine Hyperschall-Rakete eingesetzt und gleichzeitig behauptet, diese Waffe gehe in Massenproduktion und sei in der Lage, Ziele „in Staub zu verwandeln“, woran die britische BBC erinnert. Und auch China will eine neue Version dieser Waffengattung zur Schau stellen.
Feier zum Kriegsende: Chinas Machthaber Xi Jinping lässt demnächst ein neues schweres Geschütz auffahren
Als Hyperschall-Waffen gelten Flugobjekte, die schneller fliegen können als die fünffache Schallgeschwindigkeit (Mach 5), also mindestens 6.174 Kilometer pro Stunde. Diese Flugkörper können plattformunabhängig gestartet werden, sind also für alle Teilstreitkräfte nutzbar. „Waffen, die von verstreut fahrenden Schiffen und von Langstreckenflugzeugen aus abgefeuert werden, können hypothetisch innerhalb von Minuten fast jeden Ort der Welt treffen“, schreibt Sidney E. Dean. Als Hauptvertreter dieser Waffenkategorie gelten Hyperschall-Gleitflugkörper (HGFK oder: Hypersonic Glide Vehicle, HGV) sowie Hyperschall-Marschflugkörper (HMFK). Im deutschen Reservistenmagazin loyal hat der Autor Ende 2024 dargelegt, dass sich die USA in dieser Waffengattung gegenüber ihren Konkurrenten langsam emanzipieren würden.
Russland und und vor allem China gelten als führend im Hyperschall-Segment. Und gerade Chinas Machthaber Xi Jinping lässt demnächst ein neues schweres Geschütz auffahren – vor den Augen der Welt. Am 3. September wird auf dem Platz des Himmlischen Friedens dem Ende des Zweiten Weltkriegs vor 80 Jahren beziehungsweise der Kapitulation Japans gedacht. Mit einer riesigen Demonstration der militärischen Potenz des Reiches der Mitte. Wie die South China Morning Post berichtet, seien auf Fotos der Proben auch neue Anti-Schiffs-Raketen der YJ-Serie zu sehen – Autorin Liu Zhen will mit den YJ-17, YJ-19 und YJ-20 drei neue Hyperschall-Exemplare gesichtet haben, wie sie schreibt.
„Der hohe Luftwiderstand, dem Hyperschallwaffen im Tiefflug ausgesetzt sind, bremst sie und macht sie zu leichteren Zielen für diese Abwehrsysteme.“
Ihr zufolge ähnele die Waffe in Anmutung und dem Transportfahrzeug der Hyperschall-Rakete Dongfeng-17, kurz DF-17 und könnte deren Nachfolger sein. An den an der YJ-19 erkennbaren Lufteinlässen will Liu Zhen eine Ähnlichkeit mit dem russischen Hyperschall-Marschflugkörper Zircon ausmachen und ein Staustrahltriebwerk erkennen – also eine Maschine für extrem hohe Geschwindigkeiten, wie sie eine Hyperschallwaffe auszeichnet. Aus der, wie sie schreibt, „bikonischen aerodynamischen Konfiguration“ der YJ-20 interpretiert Liu Zhen, dass diese Waffe ein manövrierfähiges Wiedereintrittsmodul sei. Die Militärparade wird den Stolz Chinas auf diese Waffe genau so demonstrieren, wie Russland die Indienststellung seiner Oreschnik gefeiert hat.
Russland feiert seine Waffe: „Mit der Hyperschallrakete ,Oreschnik‘ ist Russland ein toller Coup gelungen“
„In der Duma war man sich einig: Mit der Hyperschallrakete ,Oreschnik‘ ist Russland ein toller Coup gelungen“, berichtet die Moskauer Deutsche Zeitung (MDZ), ein Blatt, dass sich an deutschsprachige Russen in Russland und weltweit wendet. Mit der „Oreschnik“ habe Russland eine „absolut eindeutige Botschaft“ gesandt, wie das Blatt Wjatscheslaw Nikonow zitiert: „Wir werden Infrastruktur zerstören, und nicht nur ukrainische, denn die Botschaft ist auch an die Westmächte gerichtet, die jegliche Gottesfurcht verloren haben. Die sollen bloß nicht sagen, wir hätten sie nicht gewarnt“, so der Politikwissenschaftler der Partei „Einiges Russland“ gegenüber der MDZ.
Mit der „Dark Eagle“ haben die USA jetzt vermeintlich gleichgezogen. Die erste ist im pazifischen Raum stationiert, weitere sollen auf verschiedene Kampfschiffe verteilt werden. Die einzelnen Regierungen versprechen sich militärische Wunderdinge von dieser Waffe. „Der entscheidende Punkt bei Hyperschall ist, dass beide Seiten dieser Gleichung gleich schwierig sind – und keine von beiden ist ausgereift … noch nicht“, wie die BBC Tom Sharpe zitiert. Der Analyst des britischen Thinktanks Royal Services Institute (RUSI) zielt ab auf die „beiden Seiten derselben Medaille“ im Raketenkrieg, so der Tenor des BBC-Autoren Frank Gardner: Die Gegner müssten so gerüstet sein, dass sie gleichzeitig ihren eigenen Schaden minimieren aber den Startrampen des Gegners maximalen Schaden zufügen könnten.
Atom-Wissenschaftler warnen: „Hyperschallwaffen sind mittelmäßig.“
Das sollen die Hyperschallwaffen leisten – aber niemand kann sicher sagen, was davon Wunsch und was davon Wirklichkeit ist. Sidney E. Dean verweist auf einen Test der Chinesen aus dem August 2021: Eine Trägerrakete vom Typ Langer Marsch habe einen Hyperschallgleitflugkörper in eine niedrige Erdumlaufbahn befördert. Zwar sei das eigentliche Ziel um 40 Kilometer verfehlt worden, doch habe China grundsätzlich bewiesen, die bisher aufgestellten US-amerikanischen Abfangsysteme umgehen zu können, wie er in loyal ausgeführt hat. Die USA würden dieses Rennen um die Dominanz von hyperschnellen Waffen gemächlich angehen, so intendiert der Autor. Das Vereinigte Königreich beispielsweise muss auch erst aus den Startlöchern kommen.

David Wright und Cameron Tracy behaupten, die USA könnten ihre Konkurrenten getrost ziehen lassen: „Hyperschallwaffen sind mittelmäßig. Es ist an der Zeit, kein Geld mehr dafür zu verschwenden“, schreiben sie im Bulletin of the Atomic Scientists. Die US-Regierung unter dem demokratischen Präsidenten Joe Biden war von der Notwendigkeit dieser Waffe scheinbar überzeugt gewesen; offenbar folgt Donald Trump dieser Linie, obwohl er für kommende Investitionen die Bedeutung der Marine zurückgestuft hat, die aber vor allem von den neuen Waffen profitieren soll. Den neuen Waffen wird keine größere Zerstörungskraft zugesprochen, allerdings der Vorteil, später entdeckt und schwerer abgefangen werden zu können.
Hyperschallwaffen würden überschätzt, urteilen Wright und Tracy – ihnen zufolge bliebe der konkrete militärische Nutzen dieser Waffen unklar; sie stützen sich dabei auf Studien verschiedener Seiten und äußern implizit den Verdacht, die eine Seite rüste damit nach, weil die andere damit vorrüste: „In Russland und China sind Entscheidungsträger möglicherweise ähnlich fasziniert von den magischen Behauptungen ihrer Militärberater über Hyperschallwaffen, ohne die Nuancen dahinter zu verstehen“, schreiben sie. Ihnen zufolge seien die meisten dieser Waffen Boost-Glide-Raketen, die durch Raketenantriebe auf Hyperschallgeschwindigkeit beschleunigt würden und dann Hunderte bis Tausende Kilometer ohne Antrieb im Tiefflug zurücklegten.
Großbritannien zieht mit Hyperschall nach: Forschungen, um bis 2030 einen Demonstrator bereitzustellen
Zudem würde die Manövrierfähigkeit der Waffen während ihrer Gleitphase überschätzt. Der Aufwand von Kurskorrekturen sei zu kostspielig, allein das mache sie wiederum anfällig: „Der hohe Luftwiderstand, dem Hyperschallwaffen im Tiefflug ausgesetzt sind, bremst sie und macht sie zu leichteren Zielen für diese Abwehrsysteme“, so Wright und Tracy. Insgesamt würden die Flugeigenschaften dieser Waffen kaum die hohen Kosten rechtfertigen, urteilen sie. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt aktuell Spenser A. Warren in einer Empfehlung aufgrund Russlands gesteigerter Möglichkeiten durch verschiedene – auch atomar zu bestückende – neue Waffen wie die mit Hyperschall operierenden Zirkon und Kinschal.
„Diese Fähigkeiten sind strategisch nicht revolutionär. Einige könnten evolutionärer Natur sein und die Geschwindigkeit, Präzision oder Zuverlässigkeit eines russischen Angriffs verbessern“, so Warren in einer Analyse für das U.S. Army War College. Allerdings müsse die Nato verstärkt in ihre Raketenabwehr investieren. Der Reiz der Waffe bleibt aber offenbar noch bestehen: Wie die britische Regierung bereits im April veröffentlicht hatte, laufen Forschungen, um bis 2030 den Demonstrator einer Hyperschallwaffe bereitzustellen. Laut ihrer Pressemitteilung verspricht sich die Regierung viel von dieser Technologie: „Dies sorgt für eine transformative Fähigkeit, die den zukünftigen britischen Streitkräften operative Vorteile verschafft.“