Traumatisiert aus Afghanistan – Bundeswehr-Veteranen kämpfen um Anerkennung

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Viele Veteranen leiden unter posttraumatischer Belastungsstörung – die Bundeswehr spielt die Krankheit oft herunter. So ging es auch Tobias Koenig.

München – Als Tobias Koenig im Flieger nach Afghanistan saß, war er überzeugt, dass er am Hindukusch die Demokratie und die Menschenrechte verteidigen würde. Das war 2005. Koenig war damals 19 Jahre alt und hatte gerade seine Wehrpflicht freiwillig verlängert. Auch zum Afghanistaneinsatz mit der ISAF, der internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe, meldete er sich freiwillig. Heute, fast 20 Jahre später, sitzt Koenig unweit des Münchner Hauptbahnhofs in einem Café und blickt kopfschüttelnd auf sein 19-jähriges Ich zurück.

„Ich bin damals mit einer sehr ritterlichen Einstellung nach Afghanistan gegangen. Ich dachte, wir retten die Welt und helfen der Bevölkerung“, erinnert er sich. Doch seine Erwartungen wurden enttäuscht. Das vorrangige Ziel der ISAF war es, Afghanistan politisch zu stabilisieren und nach den Anschlägen des 11. September 2001 den internationalen Terrorismus zu bekämpfen.

Was er in Afghanistan erlebte, zeichnet den Soldaten bis heute

Koenig war Teil des regionalen Wiederaufbauteams in der nördlichen Provinz Kundus. Als Sanitätssoldat wurde er in erster Linie dazu ausgebildet, Kameraden im Einsatz medizinisch zu versorgen – auch in Gefechten. Die Versorgung afghanischer Zivilisten sah das Mandat des Bundestages eigentlich nicht vor. Das ging nur durch die Hintertür. „Mir kam es andauernd so vor, als würde neben mir jemand ertrinken, ich aber nicht helfen darf“, sagt Koenig. Weiter ins Detail möchte er nicht gehen.

„Man kann den Mann zwar aus dem Militär holen, aber das Militär nicht aus dem Mann. Vor meinem Einsatz fand ich dieses Sprichwort noch witzig, aber es ist wahr“, sagt Koenig. Was er in Afghanistan erlebte, zeichnet ihn bis heute. Nach seinem Einsatz verstrichen vier Jahre, bis eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) ausbrach. „Ich bin mit 4,3 Promille auf Polizisten losgegangen und wurde dann in die Psychiatrie zwangseingewiesen“, erinnert sich Koenig an seinen ersten „Flashback“. Wie in einer plötzlichen Rückblende wurde er auf die traumatischen Erlebnisse in Afghanistan zurückgeworfen. Auslöser waren die Uniformen und das Auftreten der Polizisten, die Koenig als Bedrohung wahrnahm.

Viele Soldaten der Bundeswehr sind nach Auslandseinsätzen psychisch erkrankt

Soldaten, die mit körperlichen und seelischen Verletzungen aus Einsätzen heimkehren, sind keine Seltenheit. Seit der Wiedervereinigung beteiligte sich die Bundeswehr an über 25 Auslandseinsätzen. Dabei leisteten nach Angaben der Truppe mehr als 500 000 Soldaten ihren Dienst. Allein in Afghanistan waren bis zum überstürzten Truppenabzug im Juni 2021 insgesamt 93 000 Soldaten im Einsatz.

In Afghanistan starben erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg wieder deutsche Soldaten in direkten Feuergefechten. Die Bundeswehr gibt an, dass bis zum Truppenabzug 59 Soldaten in Afghanistan ihr Leben verloren, 35 davon wurden bei Gefechten oder Anschlägen getötet. Auch drei Bundespolizisten und vier Mitarbeiter deutscher Hilfs- und Entwicklungsorganisationen verloren ihr Leben. Tausende Soldaten erlitten zum Teil schwere körperliche und seelische Verletzungen. Wie viele Soldaten im Einsatz körperlich versehrt wurden, konnte die Bundeswehr auf Anfrage nicht mitteilen.

Die Bundeswehr zahlt Koenig nichts und leugnet Einsatzschädigung

Was seelische Verwundungen angeht, begann die Bundeswehr erst 2011 zentral zu erfassen, bei wie vielen Soldaten einsatzbedingte psychische Erkrankungen diagnostiziert wurden. Auch Altfälle werden erst seit 2011 erfasst. Allerdings nur dann, wenn sich die Betroffenen seitdem mindestens einmal von Ärzten der Bundeswehr behandeln ließen. Insgesamt erhielten seit 2011 knapp 12 700 Soldaten eine psychotherapeutische Behandlung, 9 859 aufgrund einer posttraumatischen Belastungsstörung. Nach Angaben der Bundeswehr wurde bei 7500 Soldaten die PTBS durch einen Einsatz in Afghanistan ausgelöst.

In einer 2012 veröffentlichten Studie verglich der Psychologe Hans-Ulrich Wittchen knapp 1600 Bundeswehrsoldaten, die in Afghanistan stationiert waren, mit etwa 900 Soldaten ohne Auslandseinsatz. Wittchen kam zu dem Ergebnis, dass Soldaten mit Einsatzerfahrung ein bis zu vierfach erhöhtes Risiko haben, innerhalb eines Jahres an PTBS zu erkranken. Auf 10 000 heimkehrende Soldaten kommen laut der Studie 300 Fälle von PTBS. Allerdings erhalte die Hälfte der Erkrankten weder eine Diagnose noch professionelle Hilfe, was eine hohe Dunkelziffer impliziert.

Tobias Koenig ist eine Dunkelziffer. Die Bundeswehr hat seine Einsatzschädigung nie anerkannt. Als seine PTBS 2009 endgültig ausbrach, war er 23 Jahre alt. Koenig erzählt, dass er sich völlig entfremdet fühlte, als er aus Afghanistan zurückkehrte. „Da war kaum Verständnis. Die Reintegration war zu diesem Zeitpunkt noch nicht wirklich ausgebaut”, sagt er. Bis auf ein „Willkommen-zu-Hause”-Wochenende habe es damals kaum Auffangnetze gegeben. Stattdessen griff Koenig zum Alkohol. „Ich trank, hatte unterschwellige Ängste und litt unter Schlafstörungen. Ich redete das aber so lange klein, bis es nicht mehr ging.“

Die Beweislast liegt bei den Veteranen – „übliche Belastungen eines Soldaten“

Nach der Diagnose stellte Koenig einen Antrag auf Wehrdienstbeschädigung. Er wollte, dass die Bundeswehr seine PTBS als Folge seines Einsatzes anerkennt und ihm eine angemessene medizinische Behandlung ermöglicht. „Die Gutachter der Bundeswehr wollten mir aber weismachen, dass es mir doch eigentlich gut gehe. Ich solle mich halt zusammenreißen”, sagt Koenig. Der ärztliche Gutachter habe darauf hingewiesen, dass er ja immerhin seine Ausbildung zum Krankenpfleger abschließen konnte. So schlecht könne es ihm also nicht gehen. Im offiziellen Schreiben habe es dann geheißen, Koenig sei nur den üblichen Belastungen eines Soldaten im Auslandseinsatz ausgesetzt gewesen. „Ich fühlte mich damals unglaublich verletzt und alleingelassen, geradezu aussätzig.”

Heute hat er einen Behinderungsgrad von 30 Prozent und kann nur in Teilzeit arbeiten. Ausgleichsleistungen erhält er keine. „Ich habe schon mal versucht mehr zu arbeiten, wurde dann aber wieder instabil”, sagt Koenig. Weil die Bundeswehr seine Einsatzschädigung bis heute nicht anerkannt hat, wurden seine bisherigen Behandlungskosten von der zivilen Renten- und Krankenversicherung übernommen. Obwohl Koenig nicht in Vollzeit arbeiten kann, sei auch sein Antrag auf eine Teilerwerbsminderungsrente abgelehnt worden. Die langfristigen Kosten seines Afghanistaneinsatzes muss Koenig also selbst tragen.

Doch die Truppe hat dazugelernt – zumindest wenn es nach Oberstleutnant Jörg Bruder geht. „Es hat sich viel getan.“ Er führt in der Bundeswehr die Leitstelle der Lotsen. Das sind Soldaten, die an ihren Standorten ehrenamtlich die Aufgabe übernehmen, erkrankte Soldaten durch den Bürokratie-Dschungel der Bundeswehr zu führen. Je nach Antragsverfahren könne der Weg bis zur Anerkennung eines Einsatzschadens bis zu zwei Jahren dauern, sagt Bruder.

Dabei liegt die Beweislast aber bei den Soldaten: Sie müssen aufwendig belegen, dass ihre Krankheit tatsächlich durch einen Einsatz ausgelöst wurde. Dennoch möchte Jörg Bruder alle aktiven und ehemaligen Soldaten dazu ermutigen, diesen Weg zu gehen. Bis zu einem Alter von 65 Jahren ist das noch möglich. Nur so könne sichergestellt werden, dass Einsatzgeschädigte auch die richtige Versorgung und soziale Absicherung bekommen.

Bundeswehr lehnt Antrag ab – „Ich kam direkt wieder in die Geschlossene”

Tobias Koenig ist sich aber sicher: Dem langwierigen und emotional belastenden Antrag auf Wehrdienstbeschädigung kann er sich kein zweites Mal aussetzen. Zu groß ist die Angst vor einem erneuten Ausbruch der PTBS. „Als die Bundeswehr damals meinen Antrag ablehnte, hat mich das völlig aus der Bahn geworfen. Ich kam direkt wieder in die Geschlossene”, erzählt er. Dieses Risiko will er nicht noch mal eingehen.

Stattdessen engagiert sich Koenig ehrenamtlich beim Bund Deutscher Einsatzveteranen (BDV). Bis vor Kurzem half er anderen Einsatzgeschädigten auf dem Weg zur Anerkennung und Behandlung ihrer Krankheit. Inzwischen ist Koenig für die Öffentlichkeitsarbeit des Veteranenverbands zuständig. Der BDV hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Interessen Einsatzgeschädigter in die Politik einzubringen.

Zwei Deutsche Soldaten in Afghanistan
Deutsche Soldaten in Afghanistan. © Can Merey/dpa

Mit ersten Erfolgen: Erst in diesem Jahr nahm die Bundeswehr den BDV in einen hohen Beraterkreis auf, die Regierung förderte die Veteranenarbeit des BDV erstmals mit 725 000 Euro. „Seitdem in Europa wieder ernsthaft über die Möglichkeit eines Krieges gesprochen wird, erfahren wir Aufwind. Die Politik hört uns endlich zu”, sagt Bernhard Drescher. Der Oberstleutnant a.D. ist Bundesvorsitzender des BDV und war selbst an Einsätzen im Balkan beteiligt.

Wenn Koenig auf der Bühne steht, singt er über die Abgründe seiner Krankheit

Als der Bundestag Ende April beschloss, dass am 15. Juni 2025 der erste nationale Veteranentag gefeiert werden soll, war das ein Meilenstein für die deutschen Veteranen, erzählt Drescher. Ihm geht es nicht nur um materielle, sondern auch um symbolische Anerkennung. „Wir brauchen endlich einen politischen Rahmen für den Aufbau einer zeitgemäßen Veteranenkultur”, sagt Drescher. Darunter versteht er weder einen Heldenkult noch Militärparaden in Berlin. „Wir wollen keine Panzer vorm Brandenburger Tor. Wir wollen einfach eine angemessene Wertschätzung, so wie andere Berufsgruppen”. Der Veteranentag sei ein Schritt in die richtige Richtung und müsse jetzt mit Leben gefüllt werden.

Tobias Koenig greift inzwischen nicht mehr zum Alkohol, sondern zur Gitarre. Unter dem Titel „Veteranenseele” veranstaltet er gemeinsam mit dem Musiker Jesse Cole in München Konzerte. Nach seinem letzten PTBS-Rückfall gründete er 2022 die Rock-Band „Foreignson and his Ghosts” – der fremde Sohn und seine Geister. Wenn Koenig auf der Bühne steht, dann singt er über die Abgründe seiner Krankheit und darüber, wie entfremdet und unverstanden er sich nach seiner Rückkehr aus Afghanistan fühlte – aber auch über Wege, mit all dem fertig zu werden.

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