Die Enquete-Kommission „Lehren aus Afghanistan“ hat im Bundestag ihr Zwischenergebnis vorgelegt. Eingeladene Einsatzkräfte kritisieren die deutsche Sicht auf das 20-jährige Engagement.
Berlin - Hauptfeldwebel Maik Mutschke war schon totgesagt. In Afghanistan geriet er mit seinem Fallschirmjägerbataillon in einen Hinterhalt. Es war das Karfreitagsgefecht 2010, Mutschke wurde schwer getroffen. Man sieht es ihm noch an, im Gesicht und am linken Arm. „Ich freue mich jetzt erst mal, hier zu sein“, sagt der Soldat in der Halle des Paul-Löbe-Hauses im Deutschen Bundestag. Dass sich Politikerinnen und Politiker mit dem Einsatz am Hindukusch auseinandersetzten, sei ein wichtiges Signal.
Die Enquete-Kommission zu den „Lehren aus Afghanistan“ hat zu einer Diskussion eingeladen. Sie fragt nach der Sicht der deutschen Einsatzkräfte. „Die Kommission soll nicht nur nach hinten gucken“, erklärt ihr Vorsitzender, der SPD-Abgeordnete Michael Müller, „sondern auch Schlussfolgerungen für die Zukunft ziehen.“ Afghanistan war der verlustreichste Einsatz in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. „Wir gedenken der 59 gefallenen oder in der Ausübung ihres Dienstes zu Tode gekommenen deutschen Soldaten“, schreiben die Enquete-Mitglieder in ihrem Zwischenbericht. Auch drei Bundespolizisten und vier Mitarbeiter deutscher Hilfs- und Entwicklungsorganisationen verloren am Hindukusch ihr Leben.
„Nichts ist gut in Afghanistan“, sagte die frühere EKD-Vorsitzende Margot Käßmann in dem blutigen Kriegsjahr 2010. Nichts ist gut? „Das haben viele, mit denen wir gesprochen haben, ganz anders eingeschätzt“, sagt der SPD-Politiker Müller. Die Bundeswehr sei in dem Land ein angesehener Gesprächspartner gewesen. Fast eine gesamte Generation habe schon durch den Zugang zu Bildung und gesundheitlicher Versorgung von dem 20-jährigen Einsatz profitiert. „Das ist nicht nichts.“
Soldaten haben sich plötzlich die Sinnfrage gestellt
Der Bundestag hatte nach den Anschlägen vom 11. September 2001 die ersten deutschen Soldaten nach Afghanistan geschickt, um unter Nato-Führung die Terroristen zu finden. „Die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland wird auch am Hindukusch verteidigt“, begründete der damalige Verteidigungsminister Peter Struck (SPD) die Mission. Nach der Bekämpfung der Taliban und von Al-Qaida hat es das Parlament jedoch versäumt, sich auf ein klares Ziel zu einigen – oder wie Militärdekan Michael Rohde im Paul-Löbe-Haus sagt: auf „messbare Erfolgsschritte“.
Der Einsatz ging mit einem hastigen Abzug zu Ende. Mit dem Abbruch der Mission 2021, als die Taliban die afghanische Hauptstadt Kabul eingenommen haben, sei „für viele Soldaten eine Welt zusammengebrochen“, erzählt Rohde, „vor allem für diejenigen, die traumatisiert aus Afghanistan zurückkamen“. Sie haben sich plötzlich die Sinnfrage gestellt. „Ich war so wütend, dass ich Tränen in den Augen hatte, als ich die Bilder sah“, sagt Dunja Neukam, Stabsfeldwebel der Reserve, vom Bund Deutscher Einsatz-Veteranen.
Der Kriegsversehrte Mutschke sieht das genauso. „Der Abzug war ein Schlag für jeden einzelnen von uns“, sagt er. Konnte es überhaupt gelingen, anderen ein westliches Staatsverständnis überzustülpen?, fragt Müller. „Vielleicht sollte man mehr die Kultur kennenlernen, bevor man in einen solchen Einsatz geht“, schlägt Oberstleutnant Mike Zimmermann vor, ehemaliger Kompaniechef in Afghanistan. Er sei nicht in dem Maße vorbereitet worden, „wie ich es mir gewünscht hätte“. Militärisch, klar, die Vernetzung mit zivilen Kräften aber habe „im Grunde nicht stattgefunden“.
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Die Bedrohungslage wurde in Deutschland kaum zur Kenntnis genommen
Der deutsche Beitrag in Afghanistan zielte zunächst auf die Beratung des Innenministeriums bei grundlegenden Organisationsfragen und auf den schnellen Wiederaufbau und die Inbetriebnahme der Polizeiakademie in Kabul, heißt es im Enquete-Bericht. Zudem ging es um die Ausbildung von rund 25.000 Polizisten aus allen Provinzen.
Die Bundeswehr war in der Anfangsphase in Kabul eingesetzt und hat an mehreren Stellen die Ausbildungsmaßnahmen unterstützt. Später übernahm Deutschland als „Lead Nation“ die Verantwortung für den Norden Afghanistans, mit einer Fläche von 162.000 Quadratkilometern. „Die sich sukzessive verschärfende Bedrohungslage“, konstatieren die Mitglieder der Kommission, „wurde in Deutschland in Politik und Öffentlichkeit nur unzureichend zur Kenntnis genommen.“
Mit „großem Hurra“ in den Einsatz gezogen
Im Paul-Löbe-Haus fragt die Moderatorin Oberstleutnant Zimmermann, ob er Wertschätzung erfahren hat. „Die einzigen, die mich wertgeschätzt haben, waren meine Familie und meine Soldaten, die mit mir im Einsatz waren“, entgegnet er kurz angebunden. „Viele haben gesagt, na, das ist doch dein Job“, sagt die Soldatin Neukam, die 2002 mit „großem Hurra“ in den Einsatz gezogen sei. „In unserer Bubble haben wir Wertschätzung erfahren“, egal ob als „Drinni“ oder „Draußi“ auf einer Außenoperation.
Trotz der am Ende „strategisch gescheiterten“ Mission bewahrt sich Dunja Neukam auch positive Erinnerungen an ihren Einsatz. Die Hitze am Hindukusch, die einem entgegenschlägt, übermüdet bei der Ankunft, „das macht etwas mit einem“. Zu Beginn habe die gesundheitliche Versorgung in Afghanistan am Boden gelegen. 2018 genossen 90 Prozent der Menschen im Land einen Zugang zu medizinischer Hilfe. „Wir haben durch kleine Eingriffe Leben gerettet“, sagt Neukam. Vieles sei gut gelaufen, findet auch der Soldat Maik Mutschke. „Der Einsatz hat etwas gebracht.“