Militärexperte: „Die Bundeswehr ist durch die Auslandseinsätze erwachsen geworden“

  1. Startseite
  2. Politik

Kommentare

Sönke Neitzel © teutopress GmbH/Imago

1993 hatte die Bundeswehr mit dem Start des Somalia-Einsatzes ihren ersten bewaffneten Auslandseinsatz. So hat sie sich seit dem entwickelt.

Dreißig Jahre nach ihrem ersten Auslandseinsatz hat die Bundeswehr ihre Rolle gefunden, sagt Sönke Neitzel, Professor für Militärgeschichte im Gespräch mit Nana Brink und Thomas Wiegold. Wenn die Truppe nicht zu einer „Karikatur der Bürokratie“ werden wolle, müsse sie sich jedoch weiterentwickeln.

Herr Neitzel, welches Start-Datum nehmen wir, wenn wir von Auslandseinsätzen der Bundeswehr sprechen?

Meines Erachtens sollte man 1993 wählen, also den Beginn des Somalia-Einsatzes, den ersten bewaffneten Auslandseinsatz der Bundeswehr. Das sind ja fast auf den Tag genau dreißig Jahre, von 1993 bis 2023.

Dieser Einsatz endete unglücklich. Nicht primär für die Bundeswehr, sondern vor allem für die USA. Stichwort: „Die Schlacht von Mogadischu“, bekannt geworden durch den Film „Black Hawk Down“, zwischen US-Soldaten, Soldaten der UN-Mission und somalischen Milizionären. Bilanz: 1000 Tote auf Seiten der Somalier, 19 auf der anderen Seite. Hat Deutschland da einfach Glück gehabt?

Tja, Glück? Ich meine, die Deutschen haben alles getan, um das zu vermeiden. Man hat sich bewusst dafür entschieden, die Sanitäter zu stellen. In einer Region, die weitgehend ungefährlich war. Die Bundeswehr-Soldaten sollten eigentlich die indische Brigade unterstützen, die war aber in einer zu gefährlichen Region stationiert, darauf wollten man sich nicht einlassen. Und dann ist immer auch ein bisschen Glück dabei. Natürlich hätte auch etwas schiefgehen können. Die Deutschen selber haben aber den Einsatz positiv bewertet. Man hat sich eingespielt, wie solche Auslandseinsätze ablaufen. Wir orientieren uns aber immer in der Mitte oder ganz hinten, also 1993 noch ganz hinten, dann vielleicht mal auch in der Mitte, aber nie als Speerspitze und vor allem nie da, wo es wirklich gefährlich ist.

Aber 1999 – der Krieg gegen Serbien –, da waren deutsche Tornados zur Ausschaltung der serbischen Flugabwehr im Einsatz. Also doch eher an der vorderen Spitze?

Die Deutschen haben, glaube ich, insgesamt drei Prozent der Einsätze geflogen. Das war vor allem ein amerikanischer Einsatz. Der entscheidende Punkt ist jedoch: Die Deutschen haben keine Bomben geworfen, im klassischen Sinne. Und wenn wir uns mal erinnern, welche Bilder haben wir von dem deutschen Einsatz, dann ist das dieser fröhlich winkende Oberst, der Geschwader-Commodore und startende Tornados.

So bekommen Sie den Newsletter von Table.Media

Dieses Interview liegt IPPEN.MEDIA im Zuge einer Kooperation mit dem Security.Table Professional Briefing vor – zuerst veröffentlicht hatte es Security.Table am 15. Dezember 2023.

Erhalten Sie 30 Tage kostenlos Zugang zu weiteren exklusiven Informationen der Table.Media Professional Briefings – das Entscheidende für die Entscheidenden in Wirtschaft, Wissenschaft, Politik, Verwaltung und NGOs.

Das war so gewollt ....

Das ist die Logik der Deutschen gewesen, eigentlich immer in dieser Zeit, in diesen 30 Jahren. Wir sind dabei, machen aber nicht mit. Wir sind in Afghanistan der drittgrößte Truppensteller, wichtig hinter den Briten und Amerikanern. Also nicht der zweitgrößte, nicht der viertgrößte, der drittgrößte. Aber wir wollen auf gar keinen Fall Verluste, möglichst nicht ans scharfe Ende. Also nicht wie die Niederländer, die vom Norden in den Süden gegangen sind, um zu kämpfen. Das haben die Deutschen so lange hinausgezögert, wie es nur irgend ging. Und als der Krieg dann in den Norden kam, konnten sie nicht weg und mussten den Kampf notgedrungen annehmen.

Diese Aussage werden viele nicht mögen. Allein 35 deutsche Soldaten sind gefallen.

Das ist richtig. Aber wenn wir das vergleichen mit der Zahl der amerikanischen Toten, den britischen Toten, dann sieht man, dass andere Länder ein viel stärkeres Ausmaß an Gefechten gehabt haben. Wenn man sich den Dokumentarfilm „Restrepo“ anschaut über die amerikanischen Luftlandekräfte in der Korengal-Schlucht, – solche Gefechte hat die Bundeswehr nie erlebt. Und wir müssen bei allem Respekt vor den Leuten – ich kenne viele, die da im Kampf waren – auch sagen: Sie haben einzelne Gefechte erlebt, aber natürlich keine Schlachten. Das war schlimm für die, die da waren. Und die Bundeswehr hat auch gezeigt, dass sie zu kämpfen versteht. Das kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Bundesregierung bewusst den Norden Afghanistans ausgewählt hat, um Kämpfe möglichst zu vermeiden. Und das ist mein Argument: Die Bundeswehr ist mitgegangen, aber sie hat sich am Ende in der Mitte des Nato-Konvois orientiert und nicht am Anfang.

Wie haben die Einsätze die Bundeswehr verändert?

Die Bundeswehr ist durch diese Einsätze erwachsen geworden. Besonders durch Afghanistan. Was meine ich damit? Man musste sich mit PTBS beschäftigen, man musste sich mit Soldaten im Krieg beschäftigen.

Aber im Vordergrund stand: retten, schützen, helfen.

Genau. Und es gibt diese Bruchlinien über die Identität, die bis heute in der Bundeswehr zu sehen sind und die auch nicht wirklich ausgetragen worden sind. Was ist unsere Identität? Was ist unsere Tradition? Das schien mit 1990 gelöst zu sein. Es ist Frieden, es sind Friedenseinsätze, die Tradition der Wehrmacht ist weg. Und dies kam alles wieder hoch mit den Kämpfen in Afghanistan. Die Bundeswehr ist ja seit ihrer Gründung auf der Suche nach sich selbst und sie glaubte mit den Auslandseinsätzen ihre Rolle gefunden zu haben.

Wie hat denn die Gesellschaft diese dreißig Jahre wahrgenommen? Hat das auch das Verhältnis der Gesellschaft zur Bundeswehr verändert?

Die Bundeswehr wurde beliebter als Institution, aber nicht unbedingt die Auslandseinsätze und damit auch nicht unbedingt die Politik, die die Auslandseinsätze befohlen hat. Wir müssen das trennen. Einerseits: Wir brauchen als souveräner Staat diese Institution. Andererseits: die Frage nach dem Sinn solcher Einsätze. Und da hat die Politik in 30 Jahren versäumt, klar zu argumentieren. Warum machen wir das? Diese Frage wurde nie ehrlich beantwortet. Das ist eine traurige Bilanz, die wir von diesen 30 Jahren ziehen müssen. Erfolgreiche Einsätze waren sicherlich jener im Kosovo und in Bosnien, zumindest militärisch. Inwieweit war das politisch erfolgreich? Wir haben ja immer die Erwartung gehabt, mit KFOR, mit SFOR oder ISAF: Wir bringen hier den Frieden. Und so einfach ist das eben nicht. Am allerwenigsten in Afghanistan. Wenn man sich noch die Reden, zum Beispiel die von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier 2017 in Masar-e Sharif anhört – ich empfehle das noch mal zur Lektüre – da redet er von der Verteidigung der Werte des Grundgesetzes. Wie viele unendlich hohle Phrasen wurden da gedroschen.

Aber die Freiheit sollte doch am Hindukusch verteidigt werden?

Dieses Argument hat ja sogar zum Teil was für sich, wenn es darum geht, die Terrorcamps von Al-Qaida zu eliminieren. Das ist ja auch erreicht worden. Ob man dafür 130.000 Soldaten brauchte, ist die große Frage. Ich glaube, die Lehre, die die Politik ziehen muss, ist: Ich muss mir mehr strategische Gedanken um Auslandseinsätze machen. Wir Historiker sind ja erst ganz am Anfang der Aufarbeitung. Ich bin gespannt.

Sie sagen, die Bundeswehr ist in den Einsätzen erwachsen geworden, heißt aber, sie hat eigentlich ihre Identität noch nicht gefunden?

Es bleibt die Frage: Warum hat man Streitkräfte? Eigentlich müsste man sagen: Es geht um Androhung und Anwendung militärischer Gewalt. Deswegen haben wir Panzer und Kriegsschiffe und Eurofighter. Doch stattdessen ging es seit 1993 um Brunnen bohren und Wiederaufbauhilfe. Es ging 30 Jahre lang nicht ums Kämpfen, zumindest nicht primär. Und das hat, glaube ich, diese Bundeswehr extrem geprägt. Die Zeit hat sie, wie das ein Stabsoffizier neulich mal in einem Hintergrundgespräch sagte, zu einer vollendeten Karikatur des deutschen Bürokratismus gemacht. Warum? Die Bundeswehr hatte in diesen Jahrzehnten ihren eigentlichen Zweck verloren und es ging bald nur noch um regelkonforme Einhaltung von Prozessen. Jetzt ist es die große Aufgabe, das zu ändern.

In der Nationalen Sicherheitsstrategie steht zwar als Schwerpunkt die Landes- und Bündnisverteidigung, aber auch weiterhin Einsätze zum Internationalen Krisenmanagement. Was heißt das?

Meines Erachtens ist es klar: Es muss im Schwerpunkt um die Bereitstellung einer Heeresdivision im Rahmen der neuen Nato-Planung für das Jahr 2025 gehen. Einen Einsatz wie Afghanistan wird die Bundeswehr zugleich nicht mehr stemmen können. Aber: Internationales Krisenmanagement bleibt eine Aufgabe und dafür gibt es ja auch noch Kräfte. Doch bevor man die wieder in größerem Stil losschickt, sollte sich die Bundeswehr fragen, was sind eigentlich unseren Schlussfolgerungen aus 30 Jahren Auslandseinsätze?

Sönke Neitzel ist Professor für Militärgeschichte und Kulturgeschichte der Gewalt an der Universität Potsdam.

Auch interessant

Kommentare