Experte dämpft Angst vor Krieg: „Moskau braucht zehn Jahre, um Armee wieder aufzurüsten“

Wissenschaftler diskutieren, ob und wann Russland die Nato angreift; geschätzt in zwei bis zehn Jahren. Sicher scheint nur die Niederlage der Ukraine.
Moskau – Nico Lange lässt keinen Zweifel gelten. „Viele Menschen können schlecht nachvollziehen, dass es bei Verteidigungsfragen darum geht, das Schlimmste anzunehmen und sich darauf vorzubereiten. Aber das ist der einzige Weg, der wirklich zu verlässlicher Sicherheit führt“, sagt der Osteuropa-Experte der Münchner Sicherheitskonferenz. Die Frage, die als Schreckgespenst über Europa schwebt, ist diejenige, inwieweit Wladimir Putin nach dem Ukraine-Krieg die Kraft haben wird, sich auch Teile anderer Nato-Länder einzuverleiben. Die Wissenschaft ist einigermaßen zerstritten angesichts der Frage, ob Putin die Nato schlussendlich angreifen will, und, wenn ja, wann er dazu in der Lage sein wird.
Beobachter gehen aus von einem Zeitraum von zwei bis zehn Jahren, bis der russische Diktator aufmarschieren lässt – dabei gehen alle Planer davon aus, dass Russland eher mit Raketen angreift, um einzelne Ziele aus der Nato zu filetieren, beispielsweise die litauische Hauptstadt Vilnius. Sein Kalkül wird dahingehend eingeschätzt, sich einzelne Häppchen zu schnappen, die der Nato zu wenig bedeuten, um ihrerseits einen Weltenbrand zu entfachen.
Experte zuversichtlich: Erst in zehn Jahren ist Russland wieder ein ernst zu nehmender Gegner
Der österreichische Politikwissenschaftler Gerhard Mangott von der Universität Innsbruck verbreitet den größten Optimismus gegen solche Szenarien: Ihm zufolge benötigt die russische Armee zehn Jahre, um nach dem verlustreichen Ukraine-Krieg wieder an die Stärke von vor diesem Konflikt heranzureichen und der Nato auf Augenhöhe begegnen zu können; besonders im Hinblick auf die Landstreitkräfte. Nato-Obere und westliche Politiker gehen aktuell davon aus, dass Russland bereits in fünf Jahren soweit sei; spätestens aber in acht Jahren.
Fabian Hoffmann ist sogar noch vorsichtiger, wie er dem ZDF gegenüber geäußert hat. Der Politikwissenschaftler an der Universität Oslo will die westlichen Länder in zwei bis drei Jahren so hochgerüstet wissen, dass Putin ein Angriff auf die Nato viel zu teuer zu stehen käme. Hoffmann spricht explizit von einem anlaufenden „Wettstreit der Risikobereitschaft“ zwischen Russland und der Nato: „Die Militärstrategie Russlands baut im Prinzip auf zwei Komponenten auf: Das eine sind die militärischen Fähigkeiten, wie sie jetzt auch in der Ukraine zum Einsatz kommen; das andere ist die Willenskraft, in einem Kampf mit der Nato durchzuhalten und auch davon auszugehen, dass die Nato nicht bereit wäre immer größere Risiken in einer aktiven Kampfhandlung mit Russland einzugehen“, wie er sagt.
Bitterer Zwischenstand: Sieg von Putins Truppen steht mittlerweile klar als Option im Raum
Der Sieg von Wladimir Putins Truppen im Ukraine-Krieg steht mittlerweile klar als Option im Raum und lässt Zweifel an einem für Europa günstigen Ausgang des Ukraine-Krieges wachsen. Die Angst vor Russland geht um in Europa; mit Folgen für alle Nato-Länder. Besonders für jene, die an der Schnittstelle zu Russland liegen. Schweden beispielsweise schürt im Volk die Sensibilität für einen nahenden Krieg, wie Julian Staib für die Frankfurter Allgemeine Zeitung aktuell schreibt.
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In Schweden seien zuletzt kurbelbetriebene Radios ausverkauft gewesen, besorgte Bürger hatten bei Hilfstelefonen angerufen, und die Zeitungen gaben Hinweise zur häuslichen Bevorratung, um tagelang ohne Hilfe auszukommen. Anlass waren die zum Teil drastischen Warnungen von schwedischen Politikern und Militärs vor einem Krieg. Den Anfang machte Carl-Oskar Bohlin, Minister für Zivilschutz. „Es könnte Krieg in Schweden geben“, sagte er auf der jährlich stattfindenden Konferenz „Volk und Verteidigung“ und erschütterte damit das Land. Dann kam Schwedens Oberbefehlshaber Micael Bydén. Der sagte, das Land müsse sich mental auf einen Krieg vorbereiten, die Lage sei so schlimm wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr. Einen Angriff Russlands könne man nicht ausschließen. Die Menschen sollten sich die Frage stellen, inwieweit sie vorbereitet seien auf das, was heute in der Ukraine passiert, auch über Schweden hereinbräche.
Wahrscheinliches Szenario: Die Ukraine wird Gebiete an Russland abtreten müssen
Die Ukraine wird Gebiete abtreten müssen, das ist die allgemeine Befürchtung zum weiteren Verlauf der Kampfhandlungen. Er bezweifle stark, dass die Ukraine in der Lage sein werde, die russischen Truppen von ihrem gesamten Territorium zu vertreiben – besonders eingedenk der Krim oder des Donbass, sagt der deutsche Militärhistoriker Sönke Neitzel. „Das halte ich militärisch für unrealistisch.“ Auch Gerhard Mangott geht davon aus, dass die Ukraine vorerst keinen Weg zu ihren Grenzen vor der Annexion der Krim 2014 zurückfinden wird. Er rät deshalb der Ukraine auf Zeit zu spielen, wie er jetzt gegenüber dem Fernseh-Sender ntv geäußert hat. Ihm schwebt ganz praktisch das „Korea-Modell“ vor.
Korea-Modell: Der noch immer schwelende Krieg
Die kommunistische Demokratische Volksrepublik Korea (Nordkorea) überfällt am 25. Juni 1950 die Republik von Korea (Südkorea) und rückt schnell bis tief in den Süden vor. Die USA rufen daraufhin den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen (UN) an, der den Überfall verurteilt und ein Mandat für ein Eingreifen von UN-Truppen erteilt. Mitte September 1950 landen internationale Truppen unter der Führung des US-Generals Douglas MacArthur bei Incheon. Drei Jahre dauert der Krieg, bis 1953 ein Waffenstillstand geschlossen wird.
In der Bundesrepublik Deutschland wie in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) herrscht nach Beginn des Korea-Krieges Angst vor einem militärischen Konflikt und dies heizt die Debatte um die deutsche Wiederbewaffnung an. Bundesregierung wie SED-Regime wollen im Rahmen des Ost-West-Konflikts einen militärischen Beitrag für ihre Seite leisten. Die Bevölkerung in West und Ost ist mehrheitlich gegen eine erneute Aufrüstung. Der Korea-Krieg ist ein Grund für die rasche Wiederbewaffnung der beiden deutschen Staaten und deren Einbindung in die sich gegenüberstehenden Bündnissysteme Warschauer Pakt und Nato.
Quelle: Würz, Markus: „Korea-Krieg“, in: Lebendiges Museum Online, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland
Mangott sieht aktuell keine Zeichen dafür, dass sich die Erschöpfung beider Seiten in eine erneute Dynamik wandeln wird, und geht davon aus, dass die eingefrorenen Gefechte in eine länger dauernde Waffenruhe auf einer noch auszuhandelnden Vertragsbasis münden werden. Allerdings warnt er davor, dass das zwar „den Aggressor belohnen wird“, aber dass der Westen eben dieses Ergebnis aushalten muss – für einen langfristig lohnenden Zweck. Ihm zufolge soll die Ukraine die Zeit der Waffenruhe nutzen, um sich bis an die Zähne zu bewaffnen, um gegenüber Putin eine abschreckende Drohkulisse aufzubauen, damit dann Schlimmeres zu verhindern oder das Rad der Zeit doch noch zurückzudrehen sei. Diesen Kompromiss müssten beide Seiten seiner Meinung nach verkraften. Alle gewonnenen Gefechte der Verteidiger würden letztendlich nur dazu nützen, die Verhandlungsposition der Ukraine zu stärken.
Erschöpfte Europäer: Laut Umfrage soll die Ukraine Verhandlungen mit Russland aufnehmen
Aufgrund der jetzt zwei Jahre währenden kriegerischen Auseinandersetzung sind laut einer aktuellen Umfrage des European Council on Foreign Relations viele Menschen pessimistisch, dass die Ukraine gegen Russland gewinnen kann. Lediglich zehn Prozent der Befragten halten einen Sieg der Ukraine für wahrscheinlich, doppelt so viele rechnen hingegen mit einem russischen Sieg. Die größte Gruppe – 37 Prozent – ist überzeugt, ein Kriegsende werde durch eine Verhandlungslösung erreicht. 41 Prozent der Umfrageteilnehmer wünschen sich von Europa, die Ukraine zu Verhandlungen mit Russland zu drängen. Für die Umfrage wurden den Angaben zufolge im Januar 2024 mehr als 17.000 Erwachsene in zwölf EU-Staaten befragt, darunter in Deutschland, Frankreich, Polen und Schweden.
„,Russland darf nicht gewinnen und die Ukraine darf nicht verlieren“, hatte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) kurz nach Ausbruch des Krieges im ZDF gesagt. „Unser Ziel muss sein, dass die Ukraine ihre Souveränität, ihre Freiheit und ihren Wunsch, in einem demokratischen Land zu leben, verteidigen kann. Dafür unterstützen wir sie.“ Das war bisher die Handlungsmaxime der Bundesregierung und weiterer Nato-Länder. Dass Deutschland beispielsweise Taurus-Marschflugkörper verweigert, damit der Krieg nicht in russisches Kernland hineingetragen werden kann, belegt, dass die Ukraine eben auch militärisch nicht auf dem Territorium Russlands gewinnen darf – jedenfalls nicht durch unmittelbare Unterstützung der Nato.
Ein rhetorischer Seiltanz, den aber die Wissenschaft in Teilen mitgeht, wie Historiker Sönke Neitzel erläutert: „,Nicht verlieren‘ könnte bedeuten, dass es die Ukraine am Ende noch gibt und dass sie lebensfähig ist. Sie muss jedoch wohl irgendwann die normative Kraft des Faktischen akzeptieren, dass Teile ihres Staatsgebietes zumindest auf absehbare Zeit von russischen Truppen besetzt sind. Nach wie vor gilt für mich: Wenn die Ukraine den Krieg nicht verliert, hat sie ihn gewonnen.“