
Bildquelle: Katharina Schüller
Buchempfehlung (Anzeige)
"Grüne fahren SUV und Joggen macht unsterblich: Über Risiken und Nebenwirkungen der Unstatistik" von Thomas Bauer, Gerd Gigerenzer, Walter Krämer und Katharina Schüller.
Die deutsche Wirtschaft ist in dem vom Zollkonflikt geprägten Frühjahr stärker geschrumpft als zunächst berechnet. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) ging im Vergleich zum ersten Quartal um 0,3 Prozent zurück, wie das Statistische Bundesamt anhand neuester Daten mitteilt. Zunächst hatte die Wiesbadener Behörde einen Rückgang um 0,1 Prozent für den Zeitraum April bis einschließlich Juni 2025 errechnet.
Im Jahr 2023 ist das BIP, den neuesten Zahlen zufolge, preisbereinigt um 0,9 Prozent geschrumpft, statt nur um 0,3 Prozent, wie bisher angenommen. Für das Jahr 2024 wurde das Wachstum von -0,2 Prozent auf -0,5 Prozent revidiert. Die jüngsten Revisionen des BIP haben gewaltige Wellen geschlagen.
Gelegentlich wurde dem Statistischen Bundesamt sogar Manipulation oder gar Fälschung vorgeworfen, andere zeigten sich zumindest „überrascht“ von den neuen Wachstumsraten. In seinen Pressemitteilungen hatte das Statistische Bundesamt bereits seit langem angekündigt, dass mit größeren Revisionen zu rechnen sei.
Entsprechende Passagen finden sich in regelmäßiger Wiederholung zwischen November 2021 und 2024, beispielsweise: „Die aktuellen Ergebnisse des BIP sind zudem weiterhin mit größeren Unsicherheiten als sonst üblich behaftet. Dies gilt insbesondere für die preis-, saison- und kalenderbereinigten Quartalswerte.“ Völlig aus dem Nichts kamen die Revisionen also nicht.
Ein Blick in die absoluten BIP-Zahlen schafft zunächst noch mehr Verwirrung. Denn wenn man die Werte vor und nach der Revision vergleicht, so scheint es eher, als wäre eine Anpassung nach oben erfolgt: In beiden Jahren ist das BIP nominal, also in den Preisen des jeweiligen Jahres, nun größer geworden.
Im Jahr 2023 ist es von 4,195 Billionen Euro auf 4,219 Billionen Euro angewachsen – ein Plus von rund 25 Milliarden Euro!
2024 haben die Statistiker im Zuge der Revision eine ähnliche Summe „draufgepackt“, was zu einer Veränderung von 4,305 auf 4,329 Euro geführt hat. Und trotzdem ist die Wirtschaft zuletzt weniger gewachsen als bisher angenommen.
Katharina Schüller ist Vorständin der Deutschen Statistischen Gesellschaft sowie Geschäftsführerin und Gründerin des Unternehmens „Stat-up“. Die Statistikerin entwickelte bereits eine Risiko-Modellierungs-Software für das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) und arbeitete mit Kary Mullis zusammen, der für die Entdeckung der PCR (die biochemische Grundlage von Corona-Tests) den Nobelpreis bekam. Gemeinsam mit anderen Statistik-Experten veröffentlicht sie die "Unstatistik des Monats" zur Einordnung aktueller Statistiken. Seit Beginn der Pandemie setzt sie sich für eine Verbesserung der Datenlage ein und berät dazu das Statistische Bundesamt als Mitglied der "Kommission Zukunft Statistik".
Der Schlüssel zur Auflösung dieses scheinbaren Widerspruchs liegt in der Preisbereinigung. Denn um das reale Wachstum des BIP über mehrere Jahre zu berechnen, muss die Inflation durch das sogenannte „Deflationieren“ herausgerechnet werden. Sonst könnte man echtes Wirtschaftswachstum nicht von bloßen Preissteigerungen unterscheiden.
Dafür braucht die amtliche Statistik möglichst genaue Informationen darüber, welche Produkte zu welchen Preisen verkauft und was zu deren Produktion eingekauft wurde. Auch für diese sogenannten Vorleistungen - beispielsweise Rohstoffe, teilfertige Produkte, aber auch Energie und Gas – müssen die Preise bestimmt werden.
Statistiker müssen über lange Zeit mit Annahmen zu den eingesetzten und umgesetzten Gütern in der Produktion arbeiten. Denn die „echten“ Zusammensetzungen der Umsätze und Vorleistungen (also Kosten) aller Wirtschaftszweige liegen aus der sogenannten Input-Output-Rechnung erst spät vor.
Auf jeden Fall deutlich später als nach 30 Tagen, wenn die erste BIP-Schätzung des vergangenen Quartals veröffentlicht wird.
Zudem enthalten erst die sogenannten Kostenstrukturerhebungen im Sommer nach einem Berichtsjahr, also mit mindestens 18 Monaten Verzögerung, Informationen zu den tatsächlichen Kosten der Unternehmen.
Bis dahin muss mit den alten Strukturen und Preisen gerechnet werden. Auch die tatsächlichen Umsätze aus den Umsatzsteuervoranmeldungen liegen erst 18 Monate nach dem Ende des Berichtsjahres vor.
Bildquelle: Katharina Schüller
Buchempfehlung (Anzeige)
"Grüne fahren SUV und Joggen macht unsterblich: Über Risiken und Nebenwirkungen der Unstatistik" von Thomas Bauer, Gerd Gigerenzer, Walter Krämer und Katharina Schüller.
Die Praxis, aus der Vergangenheit auf die Gegenwart zu schließen, funktioniert gut, solange es keine großen Schwankungen gibt. Aber sie ist eben wie Autofahren mit Blick in den Rückspiegel – das funktioniert nur, so lange die bisherigen Trends stabil bleiben.
Die (Wirtschafts-)Welt ist jedoch in den letzten Jahren massiv ins Wanken geraten. Man denke an die außergewöhnlichen, kaum vorhersagbaren Krisenereignisse und Entwicklungen – Corona, Ukraine, Gaspreis.
Wenn die Stabilität der Preisentwicklung deutlich abnimmt, müssen Statistiker bei der Inflationsbereinigung auch mit deutlich höheren Unsicherheiten rechnen.
Bei der letzten Revision durch das Statistische Bundesamt kommt noch ein weiteres, rein technisches Problem hinzu, das sich aus den mathematischen Eigenschaften von Wachstumsraten ergibt. Wachstumsraten sind prozentuale Veränderungen. Ohne Kenntnis der zugrunde liegenden Basiswerte ist ihre Aussagekraft höchst begrenzt.
„Frage immer: Prozent von was?“ ist daher eins der wichtigen Grundprinzipien statistischen Denkens, das wir in unserem Unstatistik-Buch „Grüne fahren SUV und Joggen macht unsterblich“ beschreiben.
Dass das preisbereinigte BIP-Wachstum 2023 von –0,3 Prozent auf –0,9 Prozent gesunken ist, hängt deshalb auch mit einer veränderten Ausgangsbasis zusammen. Denn das BIP sowie sein Wachstum wurde 2021 und 2022 ein gutes Stück nach oben korrigiert. Das revidierte Wachstum betrug 2022 eben nicht mehr +1,4 Prozent, sondern +1,8 Prozent.
Das bedeutet, dass das BIP-Wachstum im Folgejahr 2023 rein rechnerisch geringer ausfallen musste, selbst wenn sich ansonsten nichts verändert hätte! Bildlich gesprochen: Wenn ich auf der Leiter des Wachstums eine Stufe höher steige, falle ich (im Falle eines Falles) anschließend tiefer, selbst wenn sich die Höhe des Bodens gar nicht verändert.
Speziell in Zeiten erhöhter oder stark schwankender Inflation ist es kaum zu vermeiden, dass es noch Jahre später zu größeren Revisionen des BIP kommt. Und das hat rein gar nichts mit Manipulation zu tun oder mit „gewürfelten“ Zahlen, sondern schlicht damit, dass das BIP in seinem Charakter am aktuellen Rand viel eher eine Schätzung ist als eine echte Messung.
Auf lange Sicht mitteln sich die Unsicherheiten zwar oft aus. Berechnet man – mit aller nötigen Skepsis gegenüber Durchschnitten – das durchschnittliche BIP-Wachstum über die vier Jahre 2021 bis 2024 hinweg, so zeigt sich ein verblüffendes Ergebnis: Das durchschnittliche Wachstum (Statistiker sprechen vom geometrischen Mittel) hat sich kaum verändert, lediglich zeitlich verschoben. Im Schnitt lag es vor der Revision bei 1,14 Prozent pro Jahr, nach der Revision sind es 1,06 Prozent pro Jahr. Aber die Kommunikation der Unsicherheiten könnte besser sein.
Eins ist deshalb auf jeden Fall sicher: Auch im kommenden Jahr wird es wieder Überraschungen geben. Sicher ist ein Grund dafür die Bequemlichkeit vieler Menschen, die sich nicht im Detail mit den Herausforderungen beschäftigen möchten.
Andererseits wäre eine zielgruppengerechte Kommunikation der wichtigsten Wirtschaftsdaten und ihrer Hintergründe sehr wichtig, angesichts der Bedeutung der Entscheidungen, die von diesen Zahlen abhängen. Bei der Kommunikation können wir uns von anderen Ländern wie Großbritannien oder den Niederlanden noch viel abschauen.
Dieser Beitrag stammt aus dem EXPERTS Circle – einem Netzwerk ausgewählter Fachleute mit fundiertem Wissen und langjähriger Erfahrung. Die Inhalte basieren auf individuellen Einschätzungen und orientieren sich am aktuellen Stand von Wissenschaft und Praxis.