Kempten: Gardi Hutter zieht mit ihren Clown-Künsten alle Register
Kempten – Nur eine schmale Verbindung existiert zwischen Hannas Mikrokosmos und der Außenwelt: die Souffleusenmuschel. Ausschließlich diese kleine Fläche, die im Theater normalerweise für die Zuschauer im Verborgenen bleibt, wird im vollbesetzten Saal des Theaters in Kempten beleuchtet, alles andere bleibt im Dunkeln.
Die „Bretter, die die Welt bedeuten“ sind im Off, von dort sind nur Töne und Geräusche zu hören, die in der Muschel angekommene Spucke, der Schweißgeruch der Schauspieler werden unmissverständlich angedeutet. Im Rampenlicht steht eine heftig gestikulierende Frau mit roter Pappnase: die von Gardi Hutter bravourös verkörperte Souffleuse Hanna. Sie ist in diesem Theater die Einzige, die den Überblick über das Gesamte hat. Die Zuschauer bekommen allein im Spiegelbild ihrer Mimik und Gestik mit, was auf der anderen Seite passiert, und das höchst intensiv. Denn Hanna ist voll dabei: Sie singt und dirigiert mit, freut sich über den Erfolg und leidet bei den Patzern. Mal dreht sie komplett auf, mal kämpft sie mit dem Einschlafen.
Leben in Einsamkeit unter der Bühne
Die Pause wird eingeläutet, Hanna verlässt ihren Dienstplatz. Auf einmal landet sie und damit auch das Publikum in einer kleinen Wohnung, direkt unter der Bühne: in der privaten Lebenswelt der Souffleuse. Während sie mit der Außenwelt über ausgeklügelte Rohrsysteme in gut verständlichem Deutsch kommuniziert, verwendet sie hier eine andere Sprache: sie blabbert emotionsbezogen vor sich hin. Jeder Teil des offensichtlich aus ehemaligen Requisiten zusammengestellten Mobiliars erfüllt einen, meist improvisierten, Zweck. Alles hat seinen Platz.
An den eingespielten Ritualen merkt man, dass die in die Jahre gekommene Dame hier seit langem in großer Einsamkeit lebt und gelernt hat, die Zeit zwischen den Aufführungen zu überbrücken. Der Traum, mal auf der anderen Seite der Bühne zu stehen, nimmt von ihr immer wieder Besitz. Die als Gong verwendete Blechplatte wird schnell zur Tanzfläche umfunktioniert, um beim Zubereiten eines Kaffees eine kleine Tanzeinlage einzulegen, zu spanischen Rhythmen, die Bizets Carmen imitieren. Mit lautstarkem „café au lait/olé“ präsentiert sie am Ende das Heißgetränk. Ein einfaches Naseputzen verwandelt sich bei ihr schnell in eine musikalische Darbietung.
Eine der ersten Frauen in der Clown-Welt
Hanna bereitet Spiegeleier zu, die statt in ihrem Mund auf ihrem mächtigen Hintern landen. Der Staubwedel bleibt in ihrem Ohr stecken … sie wirkt „verplant“ und scheitert am laufenden Band. Und mit diesem Scheitern, das nie endgültig ist, bringt sie das Publikum zum Lachen. Anfangs verrät nur ihre Pappnase, dass auf der Bühne nicht irgendeine Schauspielerin steht, sondern ein weiblicher Clown. Bald erlebt man aber die ganze Bandbreite davon, was diese spezielle „Clownerin“ drauf hat.
Gardi Hutter ist eine der ersten und erfolgreichsten Frauen in diesem Metier. Seit 2022 gehört der Große Valentin-Karlstadt-Preis der Stadt München zu ihren vielen in aller Welt erhaltenen Auszeichnungen. Schauspielausbildung in Zürich, Straßenkünstlerin in Mailand, Leitung von Clown-Workshops im dortigen Teatro CRT sind die Stationen auf dem Weg zum eigenen Clowntheater, mit dem sie seit 1981 auf Tour ist. Mit der unverwechselbar mit ihr verbundenen Figur der Hanna schaffte sie 1991 den Durchbruch bei einem Mailänder Frühlingsfest. Seitdem zaubert sie mit diesem Original voller Energie und Verletzlichkeit Tränen der Freude und des Mitgefühls in die Augen der Zuschauer. Sie wechselt mit bewundernswerter Leichtigkeit zwischen tragischen Momenten und Situationskomik und wird überall bejubelt: in Schauspielhäusern, in Kultureinrichtungen, auf Festivals, sogar in Favelas. „Die Souffleuse“ hatte 2003 in Winterthur Premiere.
Ein Loch tut sich auf, die Fallhöhe ist riesig
„Nichts ist komischer als das Unglück.“ Dieses Beckett-Zitat entdeckt man auf der Innenseite einer roten Papiernase, die Hutter nach der Aufführung zusammen mit signierten Programmkarten ihren Fans überreicht. Dieses Motto ist auch an diesem Abend durchgehend präsent. Die eingerahmten, signierten Fotos von Stars vergangener Zeiten an der Wand und eine Urne mit dem Foto eines, ihres Mannes deuten an, dass es in ihrem Leben glücklichere Zeiten gegeben hat. Übrig geblieben ist eine vermeintliche Symbiose zwischen ihrem beruflichen und privaten Leben, in der sie sich offensichtlich bequem eingerichtet hat.
Meine news
Dann aber tut sich ein riesiges Loch auf, als im Theater alles still und dunkel bleibt, obwohl es nach ihrem Plan in der Matinee eine Hamlet-Aufführung geben sollte. Zuerst macht sie trotzdem routiniert weiter, als ob nichts geschehen wäre, dann entdeckt sie jedoch die Mitteilung: Das Theater ist in ein neues Gebäude umgezogen. Sie hat man einfach vergessen. Und in modernen Schauspielhäusern sucht man vergeblich nach Souffliermuscheln, wie jeder Theatergänger im Publikum weiß.
Die Fallhöhe ist riesig, die Verzweiflung Hannas unbeschreiblich. Nicht einmal das Harakiri gelingt ihr: das Schwert – auch ein Requisit – klappt in sich zusammen. Am Höhepunkt der Tragik löst sie damit lautes Lachen im Zuschauerraum aus. Das ist der Moment, der die Kunst eines Clowns so einzigartig macht! Da man davon eigentlich nicht genug kriegen kann, wird er auf einem anderen Level wiederholt. Hanna holt einen Reisekoffer heraus und will von hier nur noch weg. Aber sie passt nicht durch die Öffnung nach oben: zu groß sind die in den Jahren angesammelten Fettpolster an ihren Hüften. Die Zuschauer leiden mit und können gleichzeitig das Lachen nicht zurückhalten.
Endspurt mit Überraschungen
Ein rasender Endspurt folgt, dessen Absurdität ihresgleichen sucht. In Windeseile lässt Hanna ihre Kilos wegpurzeln. Das Bewegungspensum, das Gardi Hutter – im März wird sie 71! – vorlegt, ist enorm! Das aus dem Koffer aufgetauchte enge rote Kleid, das vor ein paar Minuten noch ihr Versagen darstellte, wird jetzt zum Symbol ihres Triumphs. Das Schlussbild, in dem sich die Muschel in ein Boot verwandelt, das sie in die Freiheit bringt, wirkt poetisch-romantisch überhöht. Wie Brechts Dreigroschenoper landet am Ende auch „Die Souffleuse“ in Fritz Bisenz’ und Ueli Bichsels Regie im Bereich des Märchenhaften, der gerade durch seine Realitätsentfernung einen bittersüßen Nachgeschmack hinterlässt.
Mitten im nicht aufhören wollenden Applaus übernimmt Gardi Hutters Hanna doch noch die Rolle der Dirigentin und lässt das Publikum singen – in Kanon, musikalisch nicht ganz sauber, aber mit höchster Souveränität.