Er schläft schlecht. Sie hat ständig Bauchweh. Die Noten werden schlechter, die Gespräche kürzer.
Auf den ersten Blick wirkt es wie Pubertät. Oder wie eine stressige Phase. Aber auf den zweiten Blick zeigt sich etwas anderes: Immer mehr Kinder und Jugendliche sind innerlich erschöpft. Nicht vom Leben. Sondern vom Druck, darin bestehen zu müssen.
Die mentale Gesundheit von Kindern und Jugendlichen ist kein Randthema mehr – sie ist ein gesellschaftlicher Brennpunkt.
Chris Oeuvray ist eine erfahrene psychologische Beraterin und Autorin mit Expertise in Narzissmus und Mobbing. Sie ist Teil unseres EXPERTS Circle. Die Inhalte stellen ihre persönliche Auffassung auf Basis ihrer individuellen Expertise dar.
Die Zahlen sprechen eine klare Sprache
Die aktuelle COPSY-Studie (Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf) zeigt:
- Fast jedes dritte Kind zeigt psychisch auffälliges Verhalten.
- Ängste, depressive Symptome und psychosomatische Beschwerden nehmen weiter zu – auch nach der Corona-Zeit.
- Besonders betroffen sind Kinder aus belasteten Familien, aber längst nicht nur: Auch Kinder aus sogenannten „intakten Haushalten“ leiden zunehmend unter innerer Erschöpfung, Zukunftsangst und Überforderung.
Was läuft schief?
Die meisten Kinder zerbrechen nicht an einzelnen Erlebnissen. Sie zerbrechen an dem Gefühl, allein damit zu sein. Was früher das laute Kind war, das auffiel, ist heute das stille Kind, das in sich zusammenfällt.
Und weil Eltern, Lehrkräfte oder Freund:innen kaum noch Zeit oder Raum haben, wirklich zuzuhören, bleiben viele Signale unbemerkt:
- das Kind, das ständig „Kopfschmerzen“ hat
- der Teenager, der sich nur noch zurückzieht
- die Elfjährige, die plötzlich panische Angst vor Klassenarbeiten hat
Es sind stille Hilferufe – und der verzweifelte Versuch, innerlich noch gesehen zu werden.
Was können Eltern konkret tun?
Erkennen: Mein Kind hat nicht nur schlechte Laune – es könnte überfordert sein
Psychische Belastung zeigt sich auch körperlich. Bauchweh, Schlafprobleme, Gereiztheit oder ständige Müdigkeit sind keine Phase, sondern mögliche Symptome.
Zuhören ohne Sofortlösung
Kinder erzählen mehr, wenn sie spüren: „Ich werde nicht sofort korrigiert, bewertet oder getröstet.“ Ein einfaches „Ich höre dich – und ich nehme dich ernst“ ist oft heilsamer als jeder Ratschlag.
Die Sprache für Gefühle ermöglichen
Viele Kinder haben nie gelernt, was sie fühlen – sie wissen nur: Es ist zu viel. Gefühle in Worte zu fassen, muss geübt werden.
Fragen Sie nicht: „Warum bist du traurig?“ sondern: „Fühlt sich das gerade schwer an oder eher leer?“
So öffnen Sie einen inneren Raum – statt Druck auszuüben.
Struktur geben, und Freiheit lassen
Tägliche Routinen (gemeinsames Essen, feste Schlafzeiten) geben Halt – aber Kinder brauchen auch Räume, in denen sie nicht funktionieren müssen.
Das eigene Verhalten reflektieren – liebevoll, nicht schuldbewusst
Eltern sein bedeutet nicht, perfekt zu sein. Aber es bedeutet, ehrlich zu sein. Wenn Sie oft gereizt sind, überfordert oder abwesend – sagen Sie das ruhig. Kinder brauchen keine Held:innen. Sie brauchen authentische, emotionale Vorbilder.
Ein Satz, der viel verändert
Im Gespräch mit einer Klientin frage ich sie, was sie ihrem Sohn zuletzt gesagt hat, als er sich wieder wortlos zurückzog. Sie denkt nach. Dann sagt sie: „Ich hab gesagt: ‚Du musst dich zusammenreißen.‘“
Sie schaut mich an, mit Tränen in den Augen. „Ich hätte sagen sollen: ‚Ich merke, dass dir etwas schwerfällt – ich bin da, wenn du mich brauchst.‘“
Das hilft: Sichere Bezugspersonen und Bindungen
Die wichtigste Prävention für psychische Gesundheit beginnt nicht bei Symptomen – sondern bei Beziehung. Nicht das perfekte Familienleben schützt Kinder – sondern die Erlaubnis, auch als Eltern mal zu scheitern, Fragen zu stellen, Raum zu geben.
Denn Kinder, die spüren, dass sie mit all ihren Gefühlen nicht falsch, sondern verbunden sind, entwickeln genau die Widerstandskraft, die sie später durchs Leben trägt. Seien Sie weniger streng zu sich. Das entspannt auch Ihr Kind.
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Bildquelle: Chris Oeuvray
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