Das tönende Unrecht: „Die wunderbaren Jahre“ in Regensburg
Knapp, schnörkellos und lakonisch schilderte Reiner Kunze in „Die wunderbaren Jahre“ den Unrechtsalltag der DDR. Torsten Rasch hat daraus eine Oper fürs Theater Regensburg gemacht.
Schon die Nickelbrille ist verdächtig, als „imperialistischer Modeeinfluss“. Oder zu dunkle Pullover. Man möge, so der Lehrer, doch optimistische Farben tragen. Oder der Auftritt der Jazz-Band, bei dem die Ordnungsmacht Subversives, gar Ausschreitungen befürchtet. Und nun? Keine Zwischenfälle beim Konzert. Die amtliche Erklärung: „Diese Disziplin lasse die Organisiertheit des Ganzen erkennen.“ Man kann diese Begebenheiten belächeln: Absurditäten, Alltagsrestriktionen, eine Unterdrückung im Kleinen. Auf der anderen Seite: das brutale Durchgreifen des Staates, nachdem sich im sozialistischen Nachbarland der Prager Frühling regte, die Inhaftierungen, die Schießbefehle, der Freitod im Gefängnis.
All das findet sich in „Die wunderbaren Jahre“ von Reiner Kunze. Die Sprengkraft, die dieses Büchlein in der DDR Mitte der Siebzigerjahre entfaltete, lässt sich heute kaum erahnen. Keine Klageschrift, „nur“ Begebenheiten. Erzählte, selbst erlebte. Knapp, lakonisch, schnörkellos aufgeschrieben – und damit umso aufwühlender, anklagender. Das Theater Regensburg hat eine Vertonung riskiert. Und Komponist Torsten Rasch, 1965 in Dresden geboren, kann da durchaus mit eigenen Erfahrungen aufwarten.
90-minütige Kammeroper
Vor allem die kurzen Kapitel über Kindheit und Jugend in der DDR übernimmt Rasch für seine 90-minütige Kammeroper wörtlich. „Unsere Heimat“, das Lied der Pionierorganisation Ernst Thälmann, rahmt das Stück. Überhaupt tauchen immer wieder Volkslieder à la „Wenn ich ein Vöglein wär“ auf, in eine verfremdete, verbogene instrumentale Begleitung getaucht. Akustische Anker sind das, weltliche Choräle einer politischen Passion: Rasch hat bereits kundgetan, dass er seine „Wunderbaren Jahre“ zu einem Requiem erweitern will.
Drei Mitwirkende – Sopranistin Henriette Schein, Mezzosopranistin Svitlana Slyvia, Bassist Jonas Atwood und Sprecherin Franziska Sörensen – übernehmen alle Rollen. Der Hyperrealismus-Falle des Buchs weicht Rasch durch diese Verfremdung aus. Auch durch ein sehrendes, bohrendes, oft erregtes und meist freitonales Melos in der Musik. Rasch knüpft (auf seine Weise) eher an die emotionalen Welten eines Alban Berg an, weniger an die konstruktivistischen Spielarten der Moderne. Empfundenes, Erlittenes drängt nach oben und außen. Anfangs gibt es Schlaglicht-Szenen, später driftet das Stück ins Durchkomponierte. Ein kleines Ensemble (Streichquintett, drei Bläser, Akkordeon) unter Dirigent John Spencer erlaubt Röntgenblicke in die Partitur. Alles bleibt nachvollziehbar, ist in seiner Klanglichkeit nicht nur Illustrierung und Verstärkung: Torsten Rasch füllt, obgleich das anfangs irritiert, jene literarischen Leerstellen, mit denen Reiner Kunze spielt.
Blick auf eine Grenzland-Idylle
Auch Regisseurin Sabine Sterken und Ausstatter Walter Schütze hüten sich vor dem bloßen Nachspielen. Wenige Versatzstücke gibt es auf der Bühne, anfangs wird alles ausgepackt und bereitgestellt – und nach eineinhalb Stunden in einer Atmosphäre zwischen Frustration und Verzweiflung wieder aufgestapelt zu den Resten einer Jugend, ja eines ganzen Staates. Zweimal gibt eine offene Schiebetür den Blick frei auf eine Grenzland-Idylle – vor die ein Stacheldraht gewickelt wird.

Die Solo-Riege hat sich sehr tief hineinbegeben in dieses Stück. Bewundernswert ist das. Emotion und Gesang werden genau dosiert, gerade im kleinen Theater am Haidplatz, der zweiten Spielstätte der Regensburger, würde sonst Überzeichnung drohen. Auf eine subtile Weise gleitet alles von der Burleske in ein schwarzes Loch. Ihren Spielplan haben die mutigen, erfolgreichen Regensburger da um eine kleine Kostbarkeit bereichert. Ein dringender Tipp auch für die Jugend, für Schulklassen ist diese Produktion. In der zweiten Aufführung sitzt der 91-jährige Reiner Kunze höchstselbst in der ersten Reihe und beklatscht den Abend. Nicht nur er ist berührt.