Unerklärliche Schmerzen - Nur im Kopf? Das versteht man unter einer Somatisierungsstörung

Sie wachen am Morgen auf und Ihr Körper ist vielleicht von einem ständigen, unerklärlichen Schmerz geplagt. Obwohl zahlreiche medizinische Tests keine konkrete Ursache finden konnten, sind die Beschwerden real und beeinträchtigen Ihr tägliches Leben erheblich. Diese Situation kennt man als Somatisierungsstörung, eine komplexe und oft missverstandene psychische Erkrankung.

Was ist eine Somatisierungsstörung?

Eine Somatisierungsstörung ist eine psychische Erkrankung, bei der Betroffene wiederholt körperliche Beschwerden verspüren, für die keine ausreichenden organischen Ursachen gefunden werden können. Diese Beschwerden sind häufig mit intensiven Gedanken sowie emotionalem Leid verbunden, welche die Lebensqualität und das tägliche Funktionieren der Betroffenen erheblich beeinträchtigen. Menschen mit dieser Störung sind oft davon überzeugt, an einer ernsthaften körperlichen Erkrankung zu leiden, auch wenn medizinische Untersuchungen keine zugrundeliegenden körperlichen Ursachen feststellen. Sie suchen also nach einer körperlichen Ursache für seelisches Leid.

Formen der Somatisierungsstörung

Es gibt verschiedene Formen der Somatisierungsstörung, die sich in ihren Symptomen und ihrer Manifestation unterscheiden. Zu den gängigsten Formen gehören:

Somatisierungsstörung

Diese Form ist durch multiple, wechselnde körperliche Symptome gekennzeichnet, die häufig über mehrere Jahre bestehen. Die Symptome betreffen oft verschiedene Organsysteme wie den Magen-Darm-Trakt, das Herz-Kreislauf-System, die Muskulatur und die Sinnesorgane.

Undifferenzierte somatoforme Störung

Hierbei handelt es sich um eine mildere Form, bei der ein oder mehrere körperliche Symptome mindestens sechs Monate lang bestehen, aber nicht die Kriterien einer voll ausgeprägten Somatisierungsstörung erfüllen.

Anhaltende somatoforme Schmerzstörung

Diese Störung ist durch einen chronischen Schmerz gekennzeichnet, der über mindestens sechs Monate anhält und nicht adäquat durch eine medizinische Erkrankung erklärt werden kann. Betroffene beschäftigen sich übermäßig mit ihrem Schmerz.

Hypochondrische Störung

Bei dieser Form steht nicht das Vorhandensein körperlicher Symptome im Vordergrund, sondern die übermäßige Angst oder Überzeugung, an einer schweren Krankheit zu leiden. Betroffene neigen dazu, sich häufig selbst zu untersuchen und Arztbesuche zu wiederholen, um ihre Befürchtungen zu bestätigen oder auszuräumen.

Ursachen und Risikofaktoren

Die genauen Ursachen der Somatisierungsstörung sind noch nicht vollständig geklärt, jedoch sind verschiedene Faktoren an der Entstehung und Aufrechterhaltung beteiligt.

Genetische und biologische Faktoren

Einige Menschen scheinen eine genetische Veranlagung für eine erhöhte Schmerzempfindlichkeit oder eine veränderte Verarbeitung von Schmerzreizen zu haben.

Psychosoziale Faktoren

Ein erhöhter Fokus auf körperliche Symptome kann auch durch frühere traumatische Erfahrungen oder einen Erziehungsstil begünstigt werden, der keine ausreichende emotionale Unterstützung bietet. Kinder, die traumatische Erlebnisse wie Missbrauch oder Vernachlässigung erfahren haben, entwickeln häufiger eine erhöhte Sensibilität für körperliche Symptome.

Psychologische Faktoren

Eine übermäßige Beschäftigung mit körperlichen Empfindungen kann durch Persönlichkeitsmerkmale wie eine Tendenz zu negativen Denkweisen oder eine mangelnde emotionale Verarbeitung gefördert werden. Stress und Angst können ebenfalls körperliche Symptome verstärken und aufrechterhalten.

Umweltfaktoren

Stressige Lebensereignisse wie zwischenmenschliche Konflikte, finanzielle Schwierigkeiten oder der Verlust eines geliebten Menschen können das Risiko einer Somatisierungsstörung erhöhen. Zudem können erlernte Verhaltensweisen, wie die andauernde Suche nach medizinischer Hilfe bei körperlichen Beschwerden, eine Rolle spielen.

Symptome der Somatisierungsstörung

Die Symptome der Somatisierungsstörung sind vielfältig und können jedes Organsystem betreffen. Die häufigsten Beschwerden sind:

  • Schmerzen (z. B. Kopfschmerzen, Rückenschmerzen, Gelenkschmerzen)
  • Funktionelle Beschwerden (z. B. Magen-Darm-Probleme, Atemnot, Herzrasen)
  • Ermüdung und Schwäche
  • Schwindel und Gleichgewichtsstörungen
  • Sensorische Störungen (z. B. Taubheitsgefühle, Kribbeln)

Wesentlich bei der Diagnose ist jedoch nicht nur das Vorhandensein dieser Symptome, sondern die maladaptive und übermäßige Reaktion darauf. Betroffene zeigen häufig:

  • Übermäßige Sorgen um ihre Gesundheit
  • Wiederholte Arztbesuche und diagnostische Tests
  • Ein Kampf um Akzeptanz und das Ernstgenommenwerden von medizinischem Personal

Diese Verhaltensweisen führen oft zu einer erheblichen Beeinträchtigung des täglichen Lebens und der sozialen Funktionen.

Diagnose der Somatisierungsstörung

Die Diagnose der Somatisierungsstörung basiert auf spezifischen klinischen Kriterien. Ein Arzt wird zunächst eine gründliche Anamnese erheben und eine körperliche Untersuchung durchführen, um organische Ursachen der Symptome auszuschließen. Zum Ausschluss organischer Ursachen können verschiedene diagnostische Tests durchgeführt werden.

Um die Diagnose einer Somatisierungsstörung zu stellen, müssen die Symptome über einen Zeitraum von mehr als sechs Monaten bestehen und mit mindestens einem der folgenden Kriterien verbunden sein:

  • Übermäßige und anhaltende Gedanken über die Schwere der Symptome
  • Anhaltend hohe Angst um die Gesundheit oder die Symptome
  • Verschwendung viel Zeit und Energie auf die Symptome oder gesundheitliche Bedenken

Da Patienten mit dieser Störung oft auch an anderen psychischen Erkrankungen wie Depressionen oder Angststörungen leiden, kann eine zusätzliche psychologische Bewertung notwendig sein.

Therapie und Behandlungsmöglichkeiten

Die Behandlung der Somatisierungsstörung ist meist multidisziplinär und umfasst sowohl psychotherapeutische als auch medikamentöse Ansätze.

Psychotherapie

Die kognitive Verhaltenstherapie (KVT) ist die am häufigsten verwendete und effektivste Form der Psychotherapie bei Somatisierungsstörungen. Sie hilft den Betroffenen, ihre dysfunktionalen Denk- und Verhaltensmuster zu erkennen und zu verändern. Hier sind einige Hauptziele der KVT:

  • Stress- und Angstreduktion: Betroffene lernen Methoden zur Stressbewältigung und Entspannungstechniken, um ihre Angst und ihre körperlichen Symptome zu reduzieren.
  • Veränderung dysfunktionaler Gedanken: Patienten entwickeln ein realistischeres Verständnis für ihre körperlichen Empfindungen und reduzieren katastrophisierende Gedanken.
  • Verbesserung der sozialen Funktionen: Die Therapie zielt darauf ab, die soziale Integration und das funktionale Niveau der Betroffenen zu verbessern.

Medikamentöse Behandlung

Medikamente können eine unterstützende Rolle bei der Behandlung spielen, insbesondere wenn gleichzeitig Depressionen oder Angststörungen vorliegen. Häufig verwendete Medikamente sind:

  • Antidepressiva: Diese können helfen, die Stimmung zu stabilisieren und körperliche Symptome wie Schmerzen zu lindern.
  • Anxiolytika: Zur kurzfristigen Behandlung von Angstzuständen können anxiolytische Medikamente eingesetzt werden, jedoch sollte deren Einsatz wegen der Suchtgefahr sorgfältig überwacht werden.

Ansprechpartner und Unterstützung

Betroffene der Somatisierungsstörung benötigen eine umfassende Unterstützung und Betreuung. Verschiedene Ansprechpartner können hierbei wertvolle Hilfe leisten:

  • Hausärzte: Für eine erste Einschätzung und Diagnose sind Hausärzte meist die besten Anlaufstellen. Sie können die Patienten zur weiteren Behandlung an Spezialisten überweisen.
  • Psychiater und Psychotherapeuten: Diese Fachleute bieten spezialisierte psychotherapeutische Behandlungen wie die kognitive Verhaltenstherapie an.
  • Kliniken und Psychosomatische Zentren: Einrichtungen, z. B. spezielle Kliniken, bieten spezialisierte Programme zur Diagnostik und Behandlung von somatoformen Störungen an.
  • Selbsthilfegruppen: Der Austausch mit anderen Betroffenen kann eine wertvolle Unterstützung und Entlastung bieten.
  • Krankenkassen: Eine Nachfrage bei der Krankenkasse kann sich lohnen, da viele Kassen die Kosten für Psychotherapie und spezielle Behandlungsprogramme übernehmen.

Fazit

Die Somatisierungsstörung ist eine komplexe und oft stark belastende Erkrankung, die viele Aspekte des Lebens der Betroffenen beeinflusst. Eine frühzeitige Diagnose und eine umfassende, multidisziplinäre Behandlung, die sowohl psychotherapeutische als auch medikamentöse Ansätze umfasst, sind entscheidend, um die Lebensqualität der Betroffenen zu verbessern. Es ist wichtig, dass sowohl Betroffene als auch Angehörige und medizinisches Personal ein Verständnis für die Erkrankung entwickeln, um Missverständnisse zu vermeiden und eine adäquate Unterstützung zu gewährleisten.

Über Dr. med. univ. Matyas Galffy

Dr. med. univ. Matyas Galffy ist Facharzt für Psychiatrie und psychotherapeutische Medizin sowie Personzentrierter Psychotherapeut. Er studierte Humanmedizin und Klinische Neurowissenschaften an der Medizinischen Universität Innsbruck und absolvierte dort seine Facharztausbildung mit Schwerpunkt Psychosomatik. Neben einer Spezialisierung in fachspezifischer psychosomatischer Medizin hält der unter anderem Diplome in Palliativmedizin und spezieller Schmerztherapie. Zuletzt war er als ärztlicher Leiter der Spezialsprechstunde für Angst- und Zwangsstörungen an der Universitätsklinik Innsbruck tätig. Seither ist er als niedergelassener Arzt in Tirol und Niederösterreich tätig. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Angststörungen, Schmerzstörungen und Psychotraumatologie.

Wichtiger Hinweis: Dies sind nur allgemeine Informationen und nicht zur Selbstdiagnose oder Selbsttherapie gedacht. Bei Verdacht auf eine Somatisierungsstörung oder Verschlimmerung der Beschwerden suchen Sie bitte eine Ärztin oder einen Arzt auf.