Reaktion auf Anschlag in München - Afghanen in Wut und Trauer: „Lassen uns nicht von deutscher Gesellschaft abkapseln“

Die schwarz-rot-grüne Flagge ihrer Heimat, Schilder und ganz viele Herzen: Hunderte Afghanen haben sich in der Hamburger Innenstadt versammelt, um ihre Bestürzung über den von einem Landsmann verübten Anschlag in München auf einer Demo zum Ausdruck zu bringen. Mit einer Schweigeminute gedachten sie, die oft selbst vor Gewalt und Unterdrückung geflohen sind, der Opfer. 

Doch neben „Trauer, Scham und Mitgefühl“ gibt es auch die große Sorge, vor Pauschalisierungen, vor der Stigmatisierung aller Afghanen. „Selbst Leute, die eigentlich keine Rassisten sind, wählen in dieser aufgeheizten Situation die Radikalen. Das macht mir Angst“, sagt einer.

Viele der Redner, die an diesem Sonntag auf die Bühne am Gänsemarkt treten, leben seit vielen Jahrzehnten in Hamburg. Sie sind Ärzte, Rechtsanwälte, Unternehmer oder Politiker. 

„Mit Scham, Bestürzung und in tiefer Trauer“

Und auch wenn sie sich der mit 45.000 Mitgliedern größten afghanischen Gemeinde in Deutschland zugehörig fühlen, besitzen viele von ihnen längst die deutsche Staatsangehörigkeit und fühlen sich hier zu Hause.

„Wir versammeln uns hier heute mit Scham, Bestürzung und in tiefer Trauer“, erklärt der Mediziner Dr. Akbar Barialai. „Unser Mitgefühl gilt den Opfern, ihren Familien und der deutschen Gesellschaft.“ Viele von ihnen seien einst vor Gewalt und Unterdrückung geflohen. 

In Hamburg hätten sie eine neue Heimat und Schutz gefunden. Um so wichtiger sei es ihnen, ein Zeichen gegen Gewalt und für ein friedliches Miteinander zu setzen. „Der Tod der Mutter und ihrer kleinen Tochter hat mein Herz gebrochen“, sagt Rechtsanwältin Jacqueline Ahmadi.

„Lassen uns nicht von deutscher Gesellschaft abkapseln!“

Das Mitgefühl für die Anschlagsopfer ist das eine. Doch es gibt noch ein anderes Thema, das alle Anwesenden gleichermaßen beschäftigt: Die Zuschreibungen und Pauschalisierungen, mit denen gefühlt alle in Deutschland lebenden Afghanen unter Generalverdacht gestellt werden. Durch die rechtsextreme AfD. Aber auch durch konservative Kräfte in anderen Parteien. Gerade jetzt vor der Bundestagswahl.

Ahmad Massieh Zare, Vorstandsvorsitzender des Verbands afghanischer Organisationen in Deutschland, erklärte: „Die abscheulichen Taten einzelner Individuen, die die gleiche Migrationsgeschichte haben wie wir, dürfen nicht zu Stigmatisierungen führen. Die Verbrechen dürfen nicht instrumentalisiert werden, um eine ganze Gemeinde auszugrenzen. Wir lassen uns nicht von der deutschen Gesellschaft abkapseln!“

Sorge vor rechter Hetze: Viele Afghanen fürchten rechtsextreme Gewalt

Auch der Arzt Mostafa Rateb (56) aus Oststeinbek macht sich Sorgen: „Durch Anschläge wie in München oder Aschaffenburg sehen sich die Rechtsradikalen bestätigt.“ 

Rateb und seine Frau sind 1992 nach dem Sturz des damaligen afghanischen Präsidenten Mohammed Najibullah nach Hamburg gekommen. Ihre beiden erwachsenen Kinder wurden hier geboren, waren noch nie in Afghanistan und sprechen kaum Farsi. Die ganze Familie besitzt die deutsche Staatsangehörigkeit. 

„Selbst Leute, die eigentlich keine Rassisten sind, wählen in dieser aufgeheizten Situation die Radikalen. Das macht mir Angst“, sagt Rateb.

Die Ängste und Sorgen der Hamburger Afghanen trafen auf das Mitgefühl mehrerer Hamburger Politiker aus Regierung und Opposition. „Sie alle können nichts dafür, was in München passiert ist“, betont Hamburgs Zweite Bürgermeisterin Katharina Fegebank (Grüne). 

„All denjenigen, die unsere Demokratie zerstören wollen und sagen, dass ihr nicht mehr dazu gehört, denen sagen wir: Nein!” Hamburg sei die Heimat der einer der größten afghanischen Gemeinden Europas. „Wir werden alles dafür tun, dass Hamburg euer Safe Space bleibt. Wir stehen zusammen!“

„Wir wollen friedlich zusammen leben. Und wir stehen zusammen gegen den Hass“

Die Grünen-Fraktionsvorsitzende Jennifer Jasberg wies darauf hin, dass Afghanistan jahrzehntelang Spielball internationaler Mächte gewesen sei, weshalb es geradezu eine Pflicht des Westens sei, Menschen aus dem geschundenen Land aufzunehmen. Sie hob die Bedeutung des Asylrechts hervor, das eine Lehre aus der Zeit des Nationalsozialismus gewesen sei. „Ich fordere ein Deutschland, das nicht nach Herkunft unterscheidet, sondern in dem Menschlichkeit zählt.“

Und Linken-Politikerin Heike Sudmann ergänzt: „Wir verurteilen jedes Attentat. Wir verurteilen aber auch, wenn eine ganze Community dafür in Haftung genommen wird. Wir verurteilen jeden Rassismus!“

Für die Anwesenden sind die Worte aus dem Herzen der Hamburger Politik eine Wohltat. Es gibt viel Applaus. Viel Dankbarkeit. „Wir wollen friedlich zusammen leben. Und wir stehen zusammen gegen den Hass“, sagt Mostafa Rateb, der Arzt aus Oststeinbek, der ein Schild hochhält mit den Worten: „Unsere Herzen sind bei den Opfern – Gemeinsam gegen Hass.“ 

Und noch etwas ist Rateb, der sich selbst als Atheist bezeichnet, wichtig: Es stört es ihn, dass bei der Suche nach der Ursache für die Anschläge reflexhaft immer die Religion ins Spiel gebracht wird. „Der Islam ist eine friedliche Religion. Damit hat das nichts zu tun.“

Von Nina Gessner

Das Original zu diesem Beitrag "Wut, Trauer, Entsetzen: Hamburgs Afghanen gehen auf die Straße – und haben eine Sorge" stammt von Hamburger Morgenpost.