Tabu oder Normalität? - Barrieren überwinden: Psychische und seelische Behinderungen im Blick
Sie wachen morgens auf und fühlen eine tiefe, unerklärliche Traurigkeit. Sie haben keinen Antrieb und nichts scheint Ihnen Freude zu bereiten. Oder Sie verspüren eine ständige, nagende Angst, die Sie daran hindert, das Haus zu verlassen. Solche Gefühle und Zustände können Anzeichen einer psychischen Erkrankung sein, die, wenn sie unbehandelt bleibt, zu einer psychischen Behinderung führen kann.
Was ist eine psychische Erkrankung?
Eine psychische Erkrankung betrifft das Denken, Fühlen und Verhalten einer Person und kann die Lebensqualität erheblich beeinträchtigen. Zu den häufigsten psychischen Erkrankungen gehören Depressionen, Angststörungen, Psychosen, bipolare Störungen, Schizophrenie und Suchtkrankheiten. Diese Erkrankungen können durch eine Vielzahl von Faktoren verursacht werden, darunter genetische Veranlagung, traumatische Erlebnisse, chronischer Stress oder chemische Ungleichgewichte im Gehirn.
Abgrenzung: Was ist eine psychische Erkrankung, was eine psychische Behinderung?
Nicht jede psychische Erkrankung führt zwangsläufig zu einer psychischen Behinderung. Eine psychische Behinderung liegt vor, wenn die Symptome einer psychischen Erkrankung so schwerwiegend und langanhaltend sind, dass sie die Fähigkeit der betroffenen Person, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, erheblich einschränken. Laut Sozialgesetzbuch IX (§ 2, Abs. 1) handelt es sich um eine Behinderung, wenn die Beeinträchtigung länger als sechs Monate andauert und die Teilhabe an der Gesellschaft erschwert.
Formen psychischer und seelischer Behinderungen
Psychische und seelische Behinderungen umfassen unterschiedliche Diagnosen und Symptome. Die Einteilung erfolgt meist nach der Internationalen Klassifikation der Krankheiten (früher ICD-10, bald ab ICD-11). Zu den bedeutendsten Formen gehören:
Affektive Störungen
Diese umfassen Erkrankungen, die durch extreme Veränderungen der Stimmung gekennzeichnet sind, wie Depressionen und bipolare Störungen. Bei einer bipolaren Störung wechseln sich manische Phasen, die durch übermäßige Hochstimmung und Aktivität gekennzeichnet sind, mit depressiven Phasen ab, die von tiefer Niedergeschlagenheit und Antriebslosigkeit geprägt sind.
Belastungs- und Anpassungsstörungen
Dazu gehören verschiedene Angststörungen, soziale Phobien, Zwangsstörungen und posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS). Diese Störungen resultieren oft aus persönlich erlebten Bedrohungen oder extremen Stresssituationen.
Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen
Diese Störungen betreffen das langanhaltende Verhalten und Muster, die das Denken, Fühlen und Handeln beeinträchtigen. Beispiele sind Borderline-Persönlichkeitsstörung und antisoziale Persönlichkeitsstörung.
Schizophrene und wahnhafte Störungen
Kennzeichnend sind tiefgreifende Veränderungen in der Wahrnehmung und dem Denken, oft begleitet von Halluzinationen und Wahnvorstellungen. Diese Störungen können das tägliche Leben und die soziale Interaktion stark beeinträchtigen.
Wie zeigt sich eine psychische Behinderung?
Psychische und seelische Behinderungen äußern sich oft im Verhalten und in der Kommunikation. Sie sind meist nicht sofort sichtbar und manifestieren sich durch anhaltende Schwierigkeiten in der Emotion, Wahrnehmung, Orientierung und dem sozialen Umgang. Einige Kennzeichen sind:
- Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren oder zu orientieren
- Anhaltende Gefühle von Angst oder Traurigkeit
- Sozialer Rückzug und Isolation
- Verlust von Motivation und Energie
- Starke Veränderungen in der Gefühlswelt, wie übermäßige Angst oder Niedergeschlagenheit
Welchen Einfluss hat sie auf den Alltag der Betroffenen?
Eine psychische Behinderung kann viele Aspekte des täglichen Lebens beeinflussen:
Selbstversorgung
Betroffene können Schwierigkeiten haben, grundlegende Aufgaben wie Körperpflege, Ernährung und Haushaltsführung zu bewältigen.
Beruf und Bildung
Die Leistungsfähigkeit im Beruf oder in der Schule kann erheblich eingeschränkt sein. Es kann schwerfallen, regelmäßige Arbeitszeiten einzuhalten, Aufgaben zu erledigen oder mit Kolleg:innen und Mitschüler:innen zu interagieren.
Soziale Interaktionen
Die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben und der Kontakt zu Freunden und Familie können stark reduziert sein. Viele Betroffene ziehen sich zurück und vermeiden soziale Situationen.
Realitätsverlust
In extremen Fällen kann es zu einem Verlust des Bezugs zur Realität kommen. Betroffene hören oder sehen Dinge, die nicht da sind, oder fühlen sich verfolgt oder fremdbestimmt.
Können psychische Behinderungen auch Schwerbehinderungen sein?
Ja, psychische Behinderungen können als Schwerbehinderung anerkannt werden, wenn der Grad der Behinderung (GdB) mindestens 50 beträgt. Dies bringt verschiedene Rechte und Nachteilsausgleiche, wie steuerliche Vergünstigungen oder besonderen Kündigungsschutz, mit sich. Um eine Anerkennung zu erhalten, muss ein Antrag beim Versorgungsamt gestellt und ein psychiatrisches Gutachten vorgelegt werden.
Wo gibt es Hilfe?
Es gibt zahlreiche Anlaufstellen und Unterstützungsangebote für Menschen mit psychischen Erkrankungen und Behinderungen:
- Hausärzte und Fachärzte: Der erste Schritt bei Verdacht auf eine psychische Erkrankung ist oft der Besuch beim Hausarzt, der dann an Fachärzte für Psychiatrie oder Psychotherapie überweisen kann.
- Psychotherapie: Psychotherapeutische Behandlungen, wie Verhaltenstherapie oder psychoanalytische Therapie, können entscheidend zur Heilung oder Linderung der Symptome beitragen. Diese werden in der Regel von der Krankenkasse übernommen.
- Digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA): DiGA sind digitale Gesundheitsanwendungen, die als Apps oder Programme auf Smartphone oder Computer genutzt werden können. Sie unterstützen die Behandlung von psychischen Erkrankungen wie Depressionen, Suchterkrankungen oder Angststörungen und können von Ärzt:innen verschrieben werden.
- Krisenintervention: In akuten Krisensituationen stehen psychosoziale Beratungsstellen und Notfallnummern, wie die Telefonseelsorge (0800 111 0 111), zur Verfügung. Eine stationäre Behandlung in einer psychiatrischen Klinik kann ebenfalls notwendig sein.
Unterstützung am Arbeitsplatz
Menschen mit psychischen Behinderungen benötigen oft Unterstützung im Arbeitsumfeld. Integrationsfachdienste bieten Beratung und Begleitung für Betroffene, Arbeitgeber und Kollegen an. Wichtige Maßnahmen können sein:
- Strukturiertes und transparentes Arbeitsumfeld
- Eindeutige Kommunikation und klare Aufgabenverteilung
- Frühzeitige Einbindung betrieblicher Unterstützungsangebote
- Zentrale Ansprechpartner im Betrieb
Eingliederungshilfe für Kinder und Jugendliche
Für betroffene Kinder und Jugendliche können Eingliederungshilfen beim Jugendamt beantragt werden. Diese umfassen verschiedene Unterstützungsangebote, um die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu fördern. Die Plattform JugendNotmail bietet zudem eine vertrauliche Online-Beratung für junge Menschen an.
Fazit
Psychische und seelische Behinderungen sind ernstzunehmende Beeinträchtigungen, die das Leben der Betroffenen stark beeinflussen können. Es ist wichtig, frühzeitig Hilfe und Unterstützung in Anspruch zu nehmen, um die Lebensqualität zu verbessern und die gesellschaftliche Teilhabe zu sichern. Ob durch medizinische Behandlung, psychotherapeutische Unterstützung oder digitale Gesundheitsanwendungen – es gibt viele Wege, die Betroffenen helfen können. Eine Anerkennung als Schwerbehinderung kann zudem rechtliche Vorteile und Nachteilsausgleiche bieten, die den Umgang mit der Erkrankung erleichtern.
Über Dr. med. univ. Matyas Galffy
Dr. med. univ. Matyas Galffy ist Facharzt für Psychiatrie und psychotherapeutische Medizin sowie Personzentrierter Psychotherapeut. Er studierte Humanmedizin und Klinische Neurowissenschaften an der Medizinischen Universität Innsbruck und absolvierte dort seine Facharztausbildung mit Schwerpunkt Psychosomatik. Neben einer Spezialisierung in fachspezifischer psychosomatischer Medizin hält der unter anderem Diplome in Palliativmedizin und spezieller Schmerztherapie. Zuletzt war er als ärztlicher Leiter der Spezialsprechstunde für Angst- und Zwangsstörungen an der Universitätsklinik Innsbruck tätig. Seither ist er als niedergelassener Arzt in Tirol und Niederösterreich tätig. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Angststörungen, Schmerzstörungen und Psychotraumatologie.
Wichtiger Hinweis: Die hier bereitgestellten Informationen dienen nur zu allgemeinen Informationszwecken und ersetzen nicht die professionelle Beratung und Behandlung durch einen Arzt. Bei Verdacht auf ernsthafte gesundheitliche Probleme oder bei anhaltenden Beschwerden sollten Sie immer einen Arzt aufsuchen.