Hitzige Debatten und kippende Grundstimmung: Seelsorger erklärt, wie wir zurück ins Miteinander finden
Dirk Wollenweber aus Peiting ist Seelsorger und weiß, was Menschen umtreibt. Im Interview spricht er darüber, warum sich Debatten momentan so schnell aufheizen und wie wir zurück ins Miteinander finden.
Peiting – Dirk Wollenweber kennt sich mit Menschen und ihren Krisen aus. Der evangelische Pfarrer aus Peiting ist seit über 24 Jahren als Seelsorger tätig, seit 2022 Kirchenrat für Notfallseelsorge in Feuerwehr und Rettungsdienst. Wir haben ihn gefragt, warum die Stimmung in der Gesellschaft momentan so sehr zu kippen scheint und wie wir es schaffen können, in einen vernünftigen Diskurs zurückzufinden.
Herr Wollenweber, der Umgangston in Debatten wird gerade immer rauer – vor allem online. Woher kommt das?
Wir leben in einer Zeit, die viel Ungewissheit hat. Wir wissen beispielsweise nicht, wie es mit unserer Umwelt oder dem Krieg in der Ukraine weitergeht. Das gibt den Menschen das Gefühl, dass die Sicherheit, die sie immer gespürt haben, plötzlich angekratzt ist. Diese Verunsicherung kann bei manchen dazu führen, dass der Ton gereizter ist. Das ist ja verständlich, denn wenn das, worauf ich immer vertraut habe, was mir Sicherheit gibt, plötzlich zur Disposition steht, dann bin ich unsicher. Vielleicht sogar panischer.
Sind das auch Sorgen, die Menschen bei Ihnen in der Seelsorge ansprechen?
In der Seelsorge geht es oft um existenzielle Probleme. Und die können mit den Sorgen um die eigenen Ressourcen zusammenhängen. An diesem Punkt will ich einen amerikanischen Wissenschaftler anbringen: Stevan E. Hobfoll, der das Ressourcen-Erhaltungsmodell aufgestellt hat. Laut dem geht es uns Menschen immer darum, unsere Ressourcen zu behalten und zu vermehren. Im Moment erleben wir aber, dass unsere Ressourcen eher schwinden. Etwa, wenn die eigenen finanziellen Mittel weniger werden, weil alles teurer wird, oder Freundinnen und Freunde, Bekannte oder Verwandte nicht mehr wie früher zur Verfügung stehen.
„Wir müssen uns in einer Gesellschaft gegenseitig wahrnehmen und stützen“
Und die Angst davor beeinflusst uns in unserer Meinung?
Ich gehe davon aus, dass das bei ganz vielen Menschen bewusst oder unbewusst eine Rolle spielt. Der Ton wird rauer, wie Sie festgestellt haben. Die Frage ist, wie wir mit der Angst umgehen.
Wie denn am besten?
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Wir müssen uns in einer Gesellschaft gegenseitig wahrnehmen und stützen. Das beginnt erst einmal bei mir selber: Ich muss wahrnehmen, dass ich selber etwas bewirken kann. Dass ich die Möglichkeit habe, in bestimmten Bereichen etwas zu schaffen.
Was heißt das konkret?
Das heißt konkret, dass das, was ich tue, auch tatsächlich eine Wirkung hat. Zum Beispiel, wenn ich mich in einem Verein engagiere oder etwas im Garten anpflanze. Viele Menschen spüren ihre Wirksamkeit im Moment auch darin, sich auf einen Ernstfall vorzubereiten. Sie graben Zisternen oder bevorraten Lebensmittel. Nun gilt es, dieses auch auf die Menschen um mich herum auszuweiten.
Rausgehen, sich vom Handy lösen - und Gemeinschaft leben
Da muss man unweigerlich an die Hamsterkäufe in der Corona-Zeit denken. War die Pandemie ein Auslöser für das Gefühl der Unsicherheit?
Um das einfach zu beantworten, muss ich wieder Hobfull zitieren. Der sagt nämlich, dass wir auch unsere soziale Wirksamkeit spüren müssen – als Gruppe, Gemeinschaft, Staat, Dorf, Stadt. Da ist in der Corona-Zeit viel ins Hintertreffen geraten. Gemeinschaft und Gesellschaft waren hochansteckend. Die Ressource stand in der Form nicht zur Verfügung.
Also sollten wir wieder mehr Gemeinschaft suchen, um in vernünftige Debatten zurückzufinden?
Ich glaube, das ist eine ganz wichtige Sache. Dass wir rausgehen, uns vom Handy lösen und wir wieder Gemeinschaft leben – und mit Leben füllen. Das ist ein ganz wichtiger Punkt, um sich sozial wieder wahrzunehmen, um Dinge auszutarieren und auszuhandeln. Diskutiert wird inzwischen ja vor allem online. In der Regel sind die Menschen, die sich einer Meinung zugehörig fühlen, in einer eigenen Blase.
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Viele suchen Bestätigung für ihre eigene Meinung.
Ja. Es ist wichtig für die Selbstwirksamkeit und die Resilienz, zu wissen, dass andere genauso denken wie man selbst. Dass man nicht allein ist mit seinen Ängsten, Hoffnungen, Plänen, Ideen. Aber in einen Diskurs kommen wir so ganz schwer.
Wie kann man Menschen aus ihren Blasen in den echten Diskurs zurückholen?
Ich finde es schwer zu sagen, was ein „echter Diskurs“ ist und wo der stattfindet. Auf Demonstrationen, in der Politik, am Stammtisch? Oft wird ein Diskurs schnell mit Heftigkeit geführt, wo ich immer mal wieder ein bisschen Gesprächskultur vermisse. Das ist etwas, das wir wieder einüben müssen.
Wie können Sie Menschen helfen, die sich im Moment einfach überfordert fühlen?
Menschen, die zu mir kommen, weil sie sich allein fühlen mit ihrer Meinung und ihren Bedürfnissen, sind manchmal sogar zutiefst verbittert, weil sie das Gefühl haben nicht, gehört zu werden. Ich versuche, mit diesen Menschen Ressourcen zu suchen. Oft sind das ganz kleine Schritte und Ideen, die die Menschen bekommen, um aus ihrer großen erdrückenden Situation ein wenig herauszukommen. Stellen Sie sich eine große Badewanne voller Wasser vor: Wenn man an einer Stelle ein bisschen Wasser wegnimmt, dann sinkt der Pegel in der ganzen Wanne. Manchmal gelingt es, in der Seelsorge solche Momente zu finden. Dann spürt man förmlich, wie bei jemandem Energie zu fließen beginnt und Kraft entsteht, etwas loszuwerden, zu verändern, zu planen.
Menschen suchen oft Selbstwirksamkeit für sich und die Gemeinschaft
Was kann das zum Beispiel sein?
Das kann sein, dass Menschen öfter etwas machen, das ihnen guttut. Oder umgekehrt: Dinge lassen, die ihnen nicht guttun.
Also müssen wir uns selbst reflektieren, unsere Gewohnheiten überdenken?
Im Grunde geht es darum, den großen Erfahrungsschatz zu heben, den jeder in sich trägt. Gleichzeitig müssen wir uns immer daran erinnern, dass wir nicht alleine leben, sondern im Bezug zu anderen Systemen. In einer Gesellschaft. Wir müssen uns da gegenseitig helfen.
Zusammenfassend geht es also darum, Selbstwirksamkeit zu finden: für einen selbst und für die Gemeinschaft.
Ja. In die Seelsorge kommen immer wieder Menschen, die beides suchen.