Lebensglück im Leberkäsweckle? Tübinger Landestheater in Landsberg
Nein, es ist keine Komödie, auch wenn der Titel „Vom Wert des Leberkäsweckles“ anderes suggeriert. Das von Jörn Klare verfasste Werk (UA 2022 in Tübingen) dreht sich um Demenz, beleuchtet die Krankheit von allen Seiten – und weit darüber hinaus. Die ausgewogen feinfühlige, aber sachliche Inszenierung lies das Landsberger Stadttheater-Publikum jubeln.
Landsberg – Schlürfen, Schlecken, Stöhnen: Orgiastisch schmatzt Lucas Riedle dem Publikum seinen Genuss vor. Ja, so ein Leberkäsweckle kann die Sinne betören – und über die Geschmacksknospen pure Lebensfreude erzeugen. Aber reicht der kurzlebig sinnliche Genuss für ein lebenswertes Leben? Oder braucht der Mensch das durch die Erinnerung geformte ‚Ich‘, das ‚Selbst-Bewusstsein‘? Eine Frage, die die Inszenierung von Sascha Flocken nicht beantwortet (und nicht beantworten kann) – aber umso klüger umkreist.
Theater-Inszenierung über die Tübinger „Ein-Mann-Institution“ Walter Jens
„Vom Wert des Leberkäsweckles“ ist ortlos in Bezug auf das Thema Demenz. Aber konkret verortet auf der ‚Insel Tübingen‘, laut dem vierköpfigen Ensemble „Geistesmetropole und tiefste Provinz zugleich“: als Heimat des berühmten Rhetorik- und Altphilologieprofessor, der „Ein-Mann-Institution Walter Jens – der Mann, der seinen Geist verlor“. Denn ab 2003 manifestiert sich bei Jens Demenz. Bis zu seinem Tod 2013 macht sie aus dem großen Denker einen anderen Menschen. Oder vielleicht auch nur einen Menschen, dessen Interessen sich verschoben haben, sagt seine Frau Inge (Insa Jebens) im Stück. Die reale Inge Jens musste sich gegen Anfeindungen wehren. Walter Jens hatte ihr vor seiner Erkrankung das Versprechen abgenommen, dass sie ihn – im Falle einer Demenz – beim assistierten Suizid in der Schweiz unterstützt. Einen Wunsch, den Jens er auch öffentlich bekundet hatte, was Inge Jens aber nicht tat – und deshalb des Verrats an ihrem Mann beschuldigt wurde. Warum sich die Leute so aufgeregt haben, fragt Inge Jens im Stück. „Vielleicht wollten sie dich nicht so sehen?“ Vielleicht liegt das Unwohlsein nicht beim ‚Patienten‘, sondern bei der Unfähigkeit der anderen, die mit dem ‚Geistlosen‘ umgehen müssen?
Autor Jörn Klare wendet sich der Krankheit Demenz von allen Seiten ausgehend zu. Das durchgehend überzeugende Ensemble – neben Jebens und Riedle noch Justin Hibbeler, der Jens‘ Rolle als Demenzkranker mit perfekt imitierter Gestik und angenehmer Zurückhaltung übernimmt, sowie Solveig Eger – fungiert im Chor als Erzähler. Dabei sind mehrere Originaleinspielungen von Walter und Inge Jens zu hören, lautlos vom jeweiligen Schauspielenden mitgesprochen. Es geht hier um Realität, nicht um Erfundenes.
Sterben ohne Filter
Das Ensemble bietet aber auch ‚Experten‘, die dem Publikum wissenschaftliche Fakten zur Demenz, zum Lang- und Kurzzeitgedächtnis und zur Erinnerung nahebringen. Und das ohne vierte Wand, mit direkter Ansprache samt, direkten Fragen: „Erinnern Sie sich noch an meinen ersten Satz heute Abend?“ Demenz kann jeden Treffen, „vielleicht hat sie in Ihrem Hirn schon begonnen?“ – eine Frage, die man aushalten muss. Ebenso wie eine detaillierte Schilderung des Sterbevorgangs. Zum Leben gehört der Tod. Wie damit umgehen? „Atmen Sie tief ein und wieder aus“, erhalten wir als Tipp vom Ensemble.
Die ruhige, distanzierte, aber nie theorisierend-kalte Stimmung wird vom Bühnen- und Kostümbild (Paul Mierzowsky) unterstützt: Kleider in Pastell, ein helles Wohnzimmer, anfangs mit Laken abgedeckt, dann enthüllt, natürlich mit umfangreichen Bücherregal und einem großen ‚Antikenkopf‘ – wir sind hier bei Walter Jens, in seinem Reich – das er auch als Dementer noch beherrscht, wie die Krone auf seinem Kopf in einer Szene verdeutlicht. Hier kann er rasend die Bücher aus dem Regal reisen – ratlos ob der geschredderte Seiten in ihnen. Oder er darf seinen roten Ariadnefaden als Wegweiser durch seine Erinnerung spannen – der letztendlich von seinen Mitspielern als Bild des Erinnerungsverlusts durchschnitten wird.
Jörn Klares Stück fragt nach der Begrifflichkeit dieses Verlustes, nach dem Vergessen: „Wie soll man Vergessen darstellen?“ Es fragt nach der Identität. Sind wir die – ganz subjektive – Summe unserer Erinnerungen? Macht uns das, was wir von uns erzählen, aus? Und wenn ja, was sind wir, wenn diese Erinnerungen weg sind? Ein anderer Mensch? Oder der Gleiche mit anderen Interessen? „Ich habe gesehen, dass es ein Leben ist“, sagt Inge Jens rückblickend über ihren dementen Mann. Ein Leben, dass „er nicht als beschädigt sieht. Er zeigte mir, dass er glücklich war.“ Vielleicht, so fragt das Ensemble, ist das Ich kein gedachtes, sondern ein gefühltes Bewusstsein, ein „Gefühl von sich selbst“. Aber wer könnte sich anmaßen, darüber zu urteilen?
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Auch „Endstation Sehnsucht“ in der Inszenierung des LTT kam beim Publikum in Landsberg gut an.
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