Vier Jahre nach der Flut: Zerschnittene Lebensadern

39 Meter lang und acht Meter breit ist das Symbol dafür, dass es im Ahrtal bisweilen auch schnell gehen kann. Nur 390 Tage seien vom ersten Spatenstich bis zur Einweihung der neuen Weinbaubrücke in Dernau vergangen, sagte Martin Schell, der Vorstandsvorsitzende der kommunalen Wiederaufbaugesellschaft „Zukunft Mittelahr“, bei der Eröffnung der Brücke Mitte Juni. Kostenpunkt: Sieben Millionen Euro. 

Brücke Dernau: Modernste Technik
Modernste Technik: Die neue Weinbaubrücke ist das Symbol für den Wiederaubau im Ahrtal. Frank Gerstenberg

Der Clou: Unter der Brücke können sich bei der nächsten Flut keine Baumstämme oder Wohnwagen mehr verfangen und für einen Rückstau sorgen, der alles niederwalzt und in Stücke reißt – so wie im Juli 2021. Sollte sich ein neues Hochwasser ankündigen, werden rechtzeitig Schrauben gelöst und das Geländer der Brücke umgeklappt, sagt Martin Schell.

Martin Schell von der Aufbaugesellschaft "Zukunft Mittelahr"
Lehren aus der Flut: Martin Schell erklärt das umklappbare Geländer an der neuen Brücke in Dernau. Frank Gerstenberg

Zerschnittene Lebensadern

„Lebensadern“ nennt Landrätin Cornelia Weigand die Brücken im Ahrtal. Wieviel dieser Lebensadern in der Nacht vom 14. auf den 15. Juli 2021 zerschnitten wurden, wissen selbst Experten wie Schell nicht genau. Der Landesbetrieb Rheinland-Pfalz nennt hierzu verwirrende Zahlen: 30 von 100 Brücken des Straßennetzes im Ahrtal seien „substanziell“ beschädigt, hinzu käme eine „Vielzahl im kommunalen Bereich“. So seien von 100 kommunalen Brücken in der Verbandsgemeinde Altenahr 80 zerstört; in Bad Neuenahr steht nur noch eine der 18 Brücken. Klar ist nur: eine Mammutaufgabe – nur die erste von vieren im Ahrtal. 

Die zweite ist der Tourismus, eine wichtige Einnahmequelle der Region. Will man seinen Urlaub im größten zusammenhängenden Rotweingebiet Deutschlands verbringen, braucht man nicht nur Brücken, es braucht auch Betten. In Altenahr zum Beispiel fehlen von 800 Betten, die es vor der Flut gab, noch immer 500. Campingplätze gibt es so gut wie keine mehr im Ahrtal, sie wurden in der Flut weggespült. 

„Noch lange nicht fertig, aber offen“

Aber dennoch: Von rund 1,4 Millionen Übernachtungsgästen vor Corona und der Flut sind inzwischen über die Hälfte zurückgekehrt. Insgesamt 760.000 Übernachtungen zählte Tourismus-Referentin Meike Carll 2024. Im Jahr davor waren es 624.000, eine Steigerung von 22 Prozent. Das Ahrtal berappelt sich offenbar: 8400 Betten hatte die Region vor der Flut im Angebot, 6200 sollen es mittlerweile wieder sein. 

„We AHR open. Noch lange nicht fertig, aber offen und froh über deinen Besuch“, lautete der Werbeslogan des Ahrtal-Tourismus nach der Flut. Vieles ist bei Weitem noch nicht fertig: Neben Betten fehlt es an den vor der Flut so beliebten Radwegen. Die Deutsche Bahn baut die Ahrtalbahn zwar in einem irren Tempo auf, die Zahl der Haltestellen ist aber noch nicht geklärt, der Takt ebenso nicht. 

In einigen Orten fehlen noch immer Straßen, in anderen wie Bad Neuenahr werden sie immer wieder aufgerissen. Die Verlegung der neuen Abwasser-, Regen- und Trinkwasserrohre, der Glasfaserkabel und der Fernwärmeleitungen ist eine Tetris-Aufgabe mit stetig steigendem Level. Nach FOCUS online Earth-Recherchen ist zum Teil bis heute nicht geklärt, welche Abwasserrohre noch intakt und welche kaputt sind, das Wasser wird mitunter einfach in die Ahr geleitet. 

Das Ahrtal – vier Jahre danach

Eine unvorstellbare Katastrophe brach in der Nacht vom 14. und 15. Juli 2021 über das Ahrtal in Rheinland-Pfalz hinein: Insgesamt 135 Menschen starben in einem historischen Hochwasser, die Schäden gehen in die Milliardenhöhe. Für die Bewohner der Region ist die Katastrophe auch vier Jahre später immer noch Realität. Zum vierten Jahrestag der Flut blickt FOCUS online Earth zurück: Wie geht es den Menschen heute? Welche Probleme gibt es immer noch zu lösen? Und was macht ihnen Hoffnung? Lesen Sie hier alle bereits erschienenen Artikel des Ahrtal-Specials zum vierten Jahrestag:

„Der Wiederaufbau ist ein faszinierendes Erlebnis“

Dennoch oder gerade deswegen trommelt Tourismus-Chef Andreas Lambeck unaufhörlich dafür, genau jetzt ins Ahrtal zu kommen. „Das, was jetzt im Ahrtal passiert, ist einzigartig“, wiederholt er mantrahaft auf Podiumsdiskussionen und in Interviews. „Kommen Sie jetzt ins Ahrtal und nicht erst in zehn Jahren.“ 

Das Ahrtal bleibt noch auf Jahre hinaus Deutschlands größte Baustelle, doch genau damit wirbt Lambeck, mit Erfolg. „Der Wiederaufbau ist ein faszinierendes Erlebnis, das es in Deutschland nirgendwo sonst gibt“, sagt der erfahrene Tourismusmanager. Die Menschen könnten miterleben, wie sich eine Region „komplett neu aufstellt“. 

Das alte Ahrtal mit seinem Retro-Charme werde kaum wiederzuerkennen sein, die Infrastruktur werde sich komplett verändern. „Alles, was jetzt entsteht, ist neu, nachhaltig und modern“, sagt Lambeck. 

Hoffen auf die Deutsche Bahn

Tatsächlich hat der Tourismus wieder „Fahrt aufgenommen“, wie etwa Gerd Wolter von der Aufbaugesellschaft „Zukunft Mittelahr“ beobachtet. Ihm ist eine neue Entwicklung aufgefallen: „Beim Weinfrühling waren so viele junge Menschen wie noch nie im Ahrtal.“ 

Tourismus-Chef Andreas Lambeck setzt große Hoffnung auf die Ahrtal-Bahn. Die Deutsche Bahn baut Gleise und Brücken mit einer Sondergenehmigung auf, deswegen läuft dieses Wiederaufbauprojekt schneller als alle anderen. Die Bahn verbindet Bonn und Koblenz mit dem gesamten Ahrtal. Im Dezember 2025 sollen die ersten Züge fahren. Lambecks Prognose: Dass das Ahrtal schrittweise „eine der bedeutendsten Kurzurlauberregionen für 22 Millionen Menschen sein wird, die uns mit dem Deutschlandticket innerhalb von zwei Stunden erreichen können". 

Bahngleise Dernau
Noch ist Dernau ein Verschiebebahnhof, ab Dezember 2025 soll die Ahrtal-Bahn wieder Bonn mit der gesamten Region verbinden. Frank Gerstenberg

Abgesehen vom Rekordtempo der Bahn ist der Aufbau an der Ahr vielen Menschen jedoch ein Rätsel, sowohl Einheimischen wie auch Besuchern. Die Dauer-Baustellen sind die dritte große Herausforderung des Ahrtals: Nicht nur nervtötend, sie sind auch schlecht fürs Geschäft. „Nach vier Jahren habe ich kein Verständnis mehr für diese Geschwindigkeit“, sagt der Winzer Peter Kriechel aus Walporzheim

An manchen Großbaustellen wie der Poststraße in Bad Neuenahr oder der Umleitung am örtlichen Krankenhaus in Ahrweiler scheint oft Stillstand zu herrschen. Mitunter sieht er nur wenige Arbeiter, an Wochenenden werde gar nicht gearbeitet, beobachtet Kriechel. „Ich kann das nicht nachvollziehen“.

Bogen um die Fußgängerzone

Einzelhändler und Gastronomen bringen die Baustellen, die wie in Bad Neuenahr ihre Geschäfte einzäunen und vom Publikumsverkehr abschotten, in Existenznöte. „Die Umsatzrückgänge sind seit Anfang des Jahres massiv“, sagt Hugo Heinzen von der „Plattenkiste“ an der Haupteinkaufsstraße von Bad Neuenahr zu FOCUS online Earth.

Seit sieben Monaten ist die gesamte Straße eine einzige Baustelle mit tiefen Baugruben, Schotterwegen, Lärm und Baggern. Besonders für ältere Menschen etwa mit Rollatoren sei die Fußgängerzone teilweise überhaupt nicht mehr zugänglich, viele Menschen mieden nun ausgerechnet die wichtigste Einkaufsstraße des Ortes. 

Baugruben in Bad Neuenahr-Ahrweiler
Die vielen Baustellen in Bad Neuenahr nerven die Menschen, gleichzeitig geht es vielen zu langsam. Frank Gerstenberg

Heinzens Plattengeschäft war durch die Flut zerstört worden, er hat es mit viel Herzblut wieder aufgebaut. Die Plattenkiste ist heute weit über die Region hinaus als Anlaufpunkt für alle Vinyl-Liebhaber bekannt. Doch nun kommt auch er an die Grenzen. „Mein Vermieter kommt mir entgegen, das Glück haben nicht alle.“ 

Poststraße Bad Neuenahr
Zwischen Café und Chaos: Improvisieren und optimistisch bleiben gehören zum Alltag auf Deutschlands größter Baustelle Frank Gerstenberg

Eine Milliarde ausgezahlt – von fünfzehn

Einer der gewichtigsten Gründe für das Schneckentempo: Personalmangel, bei den Baufirmen wie bei den Verwaltungen. „Eine Verwaltung wie die der Verbandsgemeinde Altenahr hatte früher im Jahr drei bis vier Großprojekte zu organisieren“, sagt Torsten Ohlert vom Ingenieur-Büro Becker, das viele Aufbauprojekte im Ahrtal plant. „Heute sind es weit über hundert. Das ist mit dem Personal nicht zu schaffen“. Zehn bis fünfzehn Jahre werde der Wiederaufbau noch dauern, glaubt Ohlert. 

Auch bei der Auszahlung der versprochenen Hilfen fehlt es an Geschwindigkeit – die vierte große Herausforderung des Ahrtals. Bis heute sind 3,06 Milliarden Euro aus dem 15-Milliarden-Euro-Topf von Bund und Ländern für den Wiederaufbau bewilligt, haben FOCUS online Earth-Recherchen ergeben. Darunter 1,06 Milliarden Euro für die kommunale Infrastruktur, 145 Millionen für private Haushalte und 635 Millionen Euro für private Gebäude. Lediglich 1,06 Milliarden Euro seien bislang ausgezahlt, sagt Simone Schneider, Staatssekretärin im Innenministerium von Rheinland-Pfalz, zu FOCUS online Earth.

Woran das liegt? Das Innenministerium hat eine eigene Theorie. „Es ist davon auszugehen, dass zahlreiche Schäden über Versicherungen, Angebote von Hilfsorganisationen, private Helfer, Eigenleistungen oder Spenden abgedeckt sind“, heißt es auf Anfrage von FOCUS online Earth. 

Brisant: Am 30. Juni 2026 läuft die Antragsfrist für die Bezahlung der Schäden aus. FOCUS online Earth hat aus dem Innenministerium erfahren, dass bis dahin „pro-forma“-Anträge genügten. „Die Leute werden ihr Geld bekommen“, heißt es aus internen Kreisen. Am Ende wird nach derzeitigem Stand noch etwas übrig bleiben im 15-Milliarden-Topf. Denn „die Zahl der Anträge und die beantragte Summe könnte geringer ausfallen, als seinerzeit geschätzt wurde“, teilte das Innenministerium mit. Dafür spreche, dass in diesem Jahr „die durchschnittliche Zahl der wöchentlich neu gestellten Anträge deutlich zurückgegangen“ sei. 

„In einer Nacht wurde die Infrastruktur von Jahrzehnten zerstört“

So unbürokratisch und kulant das klingen mag, so groß ist doch der Ärger vieler Privatleute, Firmen und Verwaltungen an der Ahr nach wie vor über den Wiederaufbaufonds und die Investitionsstrukturbank (ISB). 

Beispiel Bad Neuenahr-Ahrweiler, die größte Stadt in der Ahr-Region: Die Schäden allein an städtischen Gebäuden wie Schulen, Kitas, Straßen, Sportplätze oder Schwimmbäder belaufen sich auf 1,4 Milliarden Euro. „In einer Nacht wurde die Infrastruktur von Jahrzehnten zerstört“, sagt Bürgermeister Guido Orthen.  

Platz an der Linde Bad Neuenahr-Ahrweiler
Am Tag nach der Flut schauten die Menschen am Platz an der Linde in Bad Neuenahr fassungslos auf die Zerstörungen. Frank Gerstenberg

Bislang wurden für den Wiederaufbau 192 Millionen Euro ausgezahlt. Ein Grund für die Verzögerung: teilweise aufwändige und lange Antrags- und Genehmigungsverfahren. „Verfahren und Planungen sind schlicht und einfach und noch immer überbürokratisiert“, sagt Orthen. Familien, die bei der Flut ihr Haus verloren haben, streiten sich seit Jahren mit den Behörden um das Geld, das ihnen zusteht.

Das große Staatsversagen

Den größten Groll hegen die Menschen an der Ahr indes über die juristische Aufarbeitung – die fünfte große Aufgabe in der Region. Nur wenige können sich damit abfinden, dass sich der damalige Landrat Jürgen Pföhler (CDU) wegen der Ereignisse in der Flutnacht nicht vor Gericht verantworten muss. Gegen Pföhler liefen Ermittlungen wegen fahrlässiger Tötung von 135 Menschen und fahrlässiger Körperverletzung Tausender, doch die Ermittlungen wurden eingestellt.

Unter den Toten waren auch zwölf Menschen aus dem Lebenshilfehaus Sinzig. Der Vorsitzende der Lebenshilfe und FDP-Fraktionsfraktionsvorsitzende im Kreis Ahrweiler, Ulrich van Bebber, spricht gegenüber FOCUS online Earth von „Staatsversagen“. Der Untersuchungsausschuss des rheinland-pfälzischen Landtags habe dieses Versagen in seinen zweieinhalbjährigen Ermittlungen zur Ahrtalflut nur „unzureichend dargestellt“.

Unsichtbares Leiden

Nach Schätzung des Traumahilfezentrums (THZ) in Graftschaft-Lantershofen leiden zwischen 3000 und 6000 Menschen im Ahrtal an einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) leiden. Es gebe „kumulative Traumatisierungen“ in der Bevölkerung: durch die fortdauernde Konfrontation mit Verlusten von Angehörigen, mit massiven Flutschäden und durch eine „zermürbende finanzielle Unsicherheit“.

Für dieses Trauma sehen die Menschen im Ahrtal vor allem eine Person in der Verantwortung: den ehemaligen Landrat Jürgen Pföhler (CDU).

Ex-Landrat Jürgen Pföhler
Dem ehemaligen Landrat Jürgen Pföhler drohen eine Disziplinarklage und der Verlust seines Ruhegehalts. Archiv

Der Landrat „verdrückte“ sich, sagt der Staatsanwalt

Zur Erinnerung: Das Landesamt für Umwelt hatte am 14. Juli 2021 bereits um 15.26 Uhr einen Pegel von 5,19 Meter prognostiziert. Anderthalb Meter höher als bei der Jahrhundertflut im Jahr 2016. Das bedeutete, dass eine Katastrophe auf das Ahrtal zurollte. Obwohl am frühen Abend bereits weite Teile der Ober- und Mittelahr in den Fluten versunken waren, rief Pföhler keinen Katastrophenalarm aus. 

Nur einmal in der Einsatzzentrale in Ahrweiler war Pföhler erschienen. Mit dem inzwischen zurückgetretenen damaligen Innenminister Roger Lewentz (SPD) war er von 19.20 bis 19.30 Uhr in der Tiefgarage der Kreisverwaltung, in der es keinen Handyempfang und keinen Verwaltungsstab gab, der die Evakuierung hätte organisieren können. Die Einsatzleitung hatte der oberste Katastrophenschützer Pföhler bereits an seinen ehrenamtlichen Brand- und Katastrophenschutzinspekteur übergeben. 

Dazu war er nicht befugt, sagte der Leitende Oberstaatsanwalt Mario Mannweiler aus Koblenz gegenüber FOCUS online Earth: „Man kann einzelne Aufgaben übertragen, aber nicht sein gesamtes Amt. Das würde bedeuten, dass man das Amt leerlaufen lassen würde. Je größer das Ereignis, desto höher ist die Gesamtverantwortung.“ Der Landrat habe sich „verdrückt“, seinen „ganzen Landratsmantel an die Garderobe gehängt, als es brenzlig wurde“, sagte Mannweiler bei einer Pressekonferenz im April 2024. 

Mörikestraße in Bad Neuenahr-Ahrweiler
Als Pföhler endlich Katastrophenalarm ausrief, war es für eine geplante Evakuierung in Bad Neuenahr zu spät. David Bongart / Bad Neuenahr-Ahrweiler

Recht gegen Moral

Allein: Sich zu „verdrücken“, mag moralisch verwerflich sein – strafbar ist es aber nur bedingt. Also musste Mannweiler am 18. April 2024 dennoch die Einstellung der strafrechtlichen Ermittlungen gegen Pföhler verkünden. Für viele Menschen im Ahrtal ein Skandal.

Anfang Juli gab es jedoch eine Entscheidung, die für Pföhler weitreichende Konsequenzen nach sich ziehen könnte: Der ehemalige Landrat, der Ende Oktober 2021 in den Ruhestand versetzt wurde, könnte wegen seines Verhaltens in der Flutnacht zumindest einen Teil seines Ruhegehaltes verlieren. 

Die Ermittler im Disziplinarverfahren gegen Pföhler kamen zu dem Ergebnis, dass er „gravierend gegen beamtenrechtliche Pflichten verstoßen“ habe, so etwa gegen die „innerdienstliche Wohlverhaltenspflicht“ und die im Beamtenstatusgesetz normierte „Einsatzpflicht“.

„Bei der nächsten Flut sind wir wieder auf uns allein gestellt“

Vor dem Hintergrund dieser fatalen Fehler und Versäumnisse sorgt ein sechster Punkt für großen Unmut: Bis heute wissen die 130.000 Menschen zwischen Blankenheim und Sinzig nicht, ob die Verantwortlichen tatsächlich Lehren aus der Flutkatastrophe gezogen haben, ob sie Evakuierungs- und Katastrophenpläne erstellt haben. Seit dem 1. Juli dieses Jahres ist das neu eingerichtete Brand- und Katastrophenschutzamt in Koblenz zwar rund um die Uhr besetzt. Kommunikationspannen wie das Verschwinden von Videos aus Rettungshubschraubern sollten daher nicht mehr vorkommen. 

„Es ist positiv, dass es ein solches Amt gibt“, sagt Schell von der Wiederaufbaugesellschaft Zukunft Mittelahr. „Es muss aber auch ein zentrales Konzept geben, das die Verantwortlichen benennt, sonst sind wir wieder auf uns allein gestellt. Ich kenne ein solches Konzept nicht.“ 

Er fordert daher alle Ortsgemeinden auf, sich zusammenzusetzen, um die wichtigsten Fragen für einen Katastrophenfall zu besprechen: Wer bezahlt die Evakuierung? Wer ist derjenige, der angerufen wird?

Die mangelnde Kommunikation hat in der Flutkatastrophennacht an der Ahr dazu geführt, dass niemand wusste, was in den Nachbargemeinden passiert. Während bereits viele Menschen an der Ahr flussaufwärts in den Fluten umgekommen waren, wollten die Bewohner von Bad Neuenahr noch um 22.30 Uhr „Hochwasser gucken“, wie eine Bürgerin erzählt, die anonym bleiben möchte, weil sie sich heute für ihre Naivität schämt.

Andere saßen, wie in der Jugendherberge Ahrweiler, noch bis kurz nach 22 Uhr beim Wein in Bistro, wie sich der damalige Jugendherbergsleiter Oliver Piel erinnert. Er rettete damals mit Geistesgegenwärtigkeit alle 100 Gäste seiner Jugendherberge, die vom Hochwasser umspült war. 

Flutnacht - Jugendherberge Ahrweiler
Das Wasser rund um die Jugendherberge Ahrweiler stieg in der Flutnacht rasend schnell. Oliver Piel / Ahrweiler

Piel, der inzwischen die Seniorenresidenz Villa Sibilla in Bad Neuenahr leitet, kennt bis heute keine Evakuierungspläne und zieht deswegen ein niederschmetterndes Fazit: „Es gibt kein Konzept. In dieser Hinsicht hat sich noch gar nichts bewegt.“ 

Beim Hochwasserschutz scheint dies auf den ersten Blick auch zu gelten. Die 17 Regenrückhaltebecken, die im Ahrtal gebaut werden sollen, um bereits oberhalb des Tals das Wasser zurückzuhalten, sind ferne Zukunftsmusik. Zwei Milliarden Euro soll das Projekt kosten, noch ist nicht klar, wo das Geld herkommen soll. Aus dem Wiederaufbautopf jedenfalls nicht, denn der zahlt nur, was schon vorhanden war.

Kampf gegen die Hochwasser-Demenz

Und Anfang Januar wurde schmerzlich klar, dass die Anwohner der Ahr dem Wasser nach wie vor schutzlos ausgeliefert sind. Damals war der Fluss schon wieder auf bedenkliche 2,50 Meter angeschwollen. „Einen Hochwasserschutz gibt es nicht“, sagt Bürgermeister Orthen. „Die Menschen würden wieder ihr gesamtes Hab und Gut verlieren.“ Aber nicht ihr Leben, da ist sich Orthen sicher. Die Bürgerinnen und Bürger an der Ahr sowie die Politikerinnen und Politiker von Bund und Ländern haben offenbar eine jahrhundertealte Krankheit besiegt: die Hochwasser-Demenz. 

Während nach der letzten großen Flutkatastrophe mit über 50 Toten im Jahr 1910 der Fluss durch Dämme und Besiedlung noch mehr eingezwängt wurde, kann er sich heute auf sogenannten Retentionsflächen in seinem natürlichen Bett weitgehend frei ausdehnen. Die Fließgeschwindigkeit wird dadurch verlangsamt, die Abflussgeschwindigkeit erhöht. Die historischen Rundbogenbrücken der Region sind fast alle weg: Die sahen zwar pittoresk aus, hatten aber nach Expertenmeinung durch die „Verklausungen“ von Unrat und Baumstämmen einen großen Anteil am Ausmaß der Katastrophe.

„Die Ahrtaler haben gelernt, sich nicht vom Fluss abzuschotten, sondern auf ihn zuzugehen“, erklärt der Chef der Aufbaugesellschaft Bad Neuenahr-Ahrweiler, Hermann-Josef Pelgrim. Radwege werden im Hochwasserfall überspült, Dämme werden nach hinten versetzt, Prallwände verstärkt, Ufer werden abgesenkt, Uferauen erweitert.

Pegel Altenahr
Als der Pegel Altenahr am 14. Juli 2021 bei 6,20 Meter abbrach, befand sich der Katastrophenschutz an der Ahr im Blindflug Frank Gerstenberg

Hochwasserschutz: Sechs-Punkte-Plan der Umweltministerin

„Wir wollen der Ahr wieder mehr Raum geben“, sagt Landesumweltministerin Katrin Eder Ende Juni in Altenahr, wo die Ahr besonders stark gewütet hat. Für „mehr Raum“ müssen Kommunen auf Bauland verzichten und Eigentümer auf Geld: Ihre Grundstücke direkt an der Ahr werden an Wert verlieren. Dazu sind viele nicht bereit, auch deswegen stockt der Wiederaufbau. 

Für den Bürgermeister von Altenahr, Neofitos Arathymos, gibt es jedoch keine Alternative: 
„Der Schutz von Menschenleben hat für uns oberste Priorität“, sagt er zu FOCUS online Earth. „Daher verzichten wir unter anderem auf die ursprünglich für Parkplätze und die Ahrpromenade vorgesehenen Flächen, um künftige Katastrophen weitestgehend auszuschließen“, sagte er gegenüber FOCUS online Earth.

Die grüne Umweltministerin Katrin Eder hat den Hochwasserschutz zur Chefin-Sache gemacht. Herzstück dieser „Daueraufgabe“ ist ein Plan, den Eder Mitte Juni vorstellte: Online soll es mehr Informationsmaterial für Anwohner geben, die Kommunikation zwischen den Stellen soll verbessert werden, moderne Satellitenmeldestationen sollen den Hochwasserstand auch dann noch melden, wenn das Pegelhäuschen bereits von den Wassermassen mitgerissen wurde.

Dreizehn Experten aus Wissenschaft und Praxis haben mehr als drei Jahre lang an einem klimaresilienten und zukunftsorientierten Wieder- und Neuaufbau in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen getüftelt. Damit so eine Katastrophe wie im Juli 2021 nie wieder geschehen soll. Sie wolle alles dafür tun, die Bürgerinnen und Bürger vor Hochwasser zu schützen. Aber auch sie sagt: „Einen kompletten Schutz kann es nicht geben.“