Huntington-Betroffene berichtet - Mit 18 erhält Susanne niederschmetternde Diagnose, die ihr Leben verändert
Susanne steht gerade vor den Abiturprüfungen und ist bereit, ins Leben zu starten, als sie erfährt, dass sie unheilbar erkranken wird. Mit 18 Jahren macht sie einen Gentest. In ihrer Familie lastet ein schweres Erbe: Die Huntington-Krankheit.
Und Susanne will wissen, ob auch sie dieses Erbe tragen muss. Bevor sie das Ergebnis des Tests erfährt, hatte sie drei Monate Bedenkzeit, erinnert sie sich heute. Der Arzt fragt, ob sie mit dieser Gewissheit wirklich leben will. Sie will. Das Ergebnis, dass auch sie irgendwann an Huntington erkranken wird, überrascht sie nicht. „Irgendwie habe ich es gewusst.“
Susanne, die eigentlich anders heißt, ist heute 41 Jahre alt, alleinerziehende Mutter und lebt in der Region Stuttgart. Noch ist die Krankheit nicht ausgebrochen. Aber ihre gesunde Lebenszeit läuft ab.
Wann die ersten Symptome genau auftreten werden, kann niemand sagen. Sie geht davon aus, dass sie wahrscheinlich mit Mitte 40, Anfang 50 kommen, so wie bei anderen Betroffenen in ihrer Familie.
Selten, vererbbar, führt immer zum Tod
Die Huntington-Krankheit ist eine seltene, vererbbare Krankheit. In Deutschland sind etwa 10 000 Menschen betroffen, 50 000 weitere tragen das Risiko, die Krankheitsanlage geerbt zu haben. Huntington ist bisher unheilbar und führt immer zum Tod. Erste Symptome treten meist zwischen dem 35. und dem 50. Lebensjahr auf, die Lebenserwartung beträgt dann etwa 15 bis 20 Jahre.
Die Krankheit schädigt die Nervenzellen, sodass die Betroffenen nach und nach die Kontrolle über ihren Körper verlieren. Die Bewegungen werden ruckartig und unkontrolliert, später kommt es zu Schluckbeschwerden und Sprachstörungen.
Mit der Erkrankung gehen auch Verhaltensauffälligkeiten einher: Manche Betroffene werden reizbar und aggressiv, andere ängstlich. Die geistigen Funktionen verschlechtern sich, es treten Gedächtnis- und Orientierungsstörungen auf bis hin zur Demenz. Betroffene werden pflegebedürftig, in der Endphase der Erkrankung sind sie bettlägerig.
Huntington zieht sich durch Familien. Ist ein Elternteil betroffen, stehen die Chancen 50:50, dass das Kind das entsprechende Gen geerbt hat. Ab dem 18. Lebensjahr kann man das in Deutschland mit einem Gentest herausfinden. Wer das Gen in sich trägt, wird unweigerlich erkranken.
Trotz der Gewissheit baut sich Susanne ein Leben auf
Susanne macht mit ihrer Volljährigkeit auf Wunsch ihrer Mutter den Test. Sie weiß damals schon seit Jahren, dass ihre Familie betroffen ist. Für Susanne ist klar, dass sie wissen will, ob auch sie krank werden wird. „Man muss dann einfach anders umgehen mit dem Leben“, sagt sie heute.
Dafür, sich nach dem Test mit der Krankheit zu beschäftigen, ist damals aber kein Platz. „Mit 18 zu wissen, man wird mit Mitte 40 oder 50 krank, ist noch so weit weg“, erinnert sie sich.
Sie habe ins Leben starten müssen, den Schulabschluss machen, eine Ausbildungsstelle finden. „Ich hatte gar nicht die Zeit, mich in mein Zimmer zu verkriechen und zu denken, was mache ich jetzt?“
„Menschen stehen vor einem Scherbenhaufen, wenn das Ergebnis positiv ist“
Wissen oder Nicht-Wissen – vor dieser schwierigen Entscheidung stehen Menschen, deren Familie von der Huntington-Krankheit betroffen ist. Wie man sich entscheide, sei Charaktersache, sagt Michaela Winkelmann. Sie kommt aus Filderstadt-Bonlanden, leitet die Selbsthilfegruppe für Betroffene der Huntington-Krankheit und Angehörige in Stuttgart und war bis 2023 die Vorsitzende der Deutschen Huntington-Hilfe.
„Es gibt Menschen, die mit der Ungewissheit nicht klarkommen, wie es mit ihrem Leben weitergeht. Und es gibt andere, denen die Ungewissheit lieber ist.“ Menschen, die noch nicht lange von der Huntington-Krankheit wissen, wollen häufig sofort herausfinden, ob auch sie betroffen sind, sagt Winkelmann.
„Sie stehen dann vor einem Scherbenhaufen, wenn das Ergebnis positiv ist.“ Wer in seiner Familie die Krankheit schon erlebt habe, denke reflektierter darüber nach, wann man im Leben den Gentest macht oder ob man das überhaupt will.
Winkelmann weiß, wie ein Gentest das Leben verändert. Sie kommt aus einer Huntington-Familie, 2009 zeigt eine Blutuntersuchung, dass sie von der Krankheit nicht betroffen ist – eine Erleichterung. Wer dagegen herausfindet, dass er erkranken wird, brauche viel Zeit, das zu verarbeiten, sagt sie.
Zu wissen, dass die gesunde Lebenszeit verkürzt sei, beeinflusse die Einstellung der Betroffenen gegenüber dem Leben sehr stark. „Menschen, die das Huntington-Gen in sich tragen, leben sehr bewusst.“
„Ich kann mich nicht ins Bett legen und weinen, das bringt nichts“
Susanne lebt schon 23 Jahre mit dem Wissen – und mit der Ungewissheit, wann die Krankheit ausbrechen wird. Die Frage nach dem Warum stellte sie sich nie.
„Ich kann mich nicht ins Bett legen und weinen, das bringt nichts“, sagt sie. Wenn einem das Leben schwere Situationen in den Weg legt, müsse man eben durch. Sie habe trotzdem ein Leben wie jeder andere , sagt sie.
Als sie sich mit Mitte 20 mit der Kinderplanung beschäftigt, setzt sie sich erstmals bewusst mit der Huntington-Krankheit auseinander. Es prasselt so viel auf sie ein, dass sie manchmal nachts nicht schlafen kann.
Kinderplanung stellte Susanne lange vor ein Dilemma
Die Entscheidung, ob sie Kinder bekommt, war schwer. „Ich setze meinem Kind mit 50 prozentiger Wahrscheinlichkeit einer Erbkrankheit aus, die nicht heilbar ist und nicht gut ausgeht. Wer möchte die Bürde weitergeben?“, sagt sie.
Trotzdem entscheidet sie sich dafür. „Wenn es in unserer Familie so wäre, dass man mit 20 Jahren erkrankt, hätte ich mich dagegen entschieden. Meine Kinder werden aber wie ich 50 gesunde Jahre haben. Wer sagt , dass das nichts wert ist?“ Vielleicht sei die Medizin bis dahin ja weiter, wenn sie das Gen geerbt haben sollten.
Für ihre dreijährige Tochter und ihre 13-jährigen Sohn ist Susanne ist die Mama, die für alles eine Lösung findet. Für die Huntington-Krankheit gibt es jedoch keine.
Die 41-Jährige wird wertvolle Zeit mit ihren Kindern verpassen. Ihre Tochter wird nicht volljährig sein, wenn die Krankheit bei ihrer Mutter ausbricht. Susanne wird wahrscheinlich nicht lange genug leben, um Oma zu werden.
„Das Schlimmste daran ist, dass meine Kinder mitbekommen, dass ich krank werde und sie mich so erleben müssen“, sagt sie. Ein paar Tränen fließen ihre Wangen hinunter. „Es gibt keine Überlebenschancen. Den Kindern zu sagen, dass es nie wieder gut wird, wird der Endgegner meines Lebens sein.“
Auf den Ausbruch der Krankheit vorbereitet
Die Zeit, die bleibt, will Susanne bewusst nutzen. Einen radikalen Lebenswandel wollte sie seit ihrem Gentest nie. Seit über 20 Jahren arbeitet sie in ihrem Job, wollte sich eine stabile Basis aufbauen. Jetzt, da ihr nicht mehr viel Zeit bleiben, möchte sie noch etwas verändern. Zum Beispiel einen anderen Weg beruflich einschlagen.
Auf den Ausbruch der Krankheit hat sich Susanne vorbereitet. Sie hat entsprechende Versicherungen abgeschlossen, legt Geld zur Seite, erzieht ihre Kinder zur Selbstständigkeit.
Susanne plant Sterbehilfe im Ausland: „Das will ich nicht“
Wenn die Symptome zu schlimm werden, wird sie im Ausland Sterbehilfe in Anspruch nehmen. „Meine Oma war 15 Jahre bettlägerig durch die Krankheit und wurde jahrelang mit der Magensonde ernährt. Das will ich nicht“, sagt die 41-Jährige.
Bis die Symptome kommen, räumt sie der Krankheit so wenig Platz wie möglich in ihrem Leben ein. „Irgendwann wird die Krankheit mein Leben bestimmen. Bis dahin soll sie nur ganz klein in einer Ecke bleiben.“
Von Annika Mayer
Das Original zu diesem Beitrag "Leben auf Zeit – Bei Susanne wird die Huntington-Krankheit ausbrechen" stammt von Stuttgarter Zeitung.