Bei Herzensprojekt Bürgergeld: SPD fährt im Bundestagswahlkampf härtere Linie

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Pflichten für Bürgergeldempfänger bleiben, doch Sanktionen sinken. Geänderte Rahmenbedingungen prägen den Umgang der Arbeitsagentur mit Regelverstößen.

Berlin – Rund sieben Wochen vor der Bundestagswahl am 23. Februar dreht der Wahlkampf so manche politische Überzeugung auf links. Während die Union und ihr Kanzlerkandidat Friedrich Merz vorerst nichts mehr von unpopulären Anpassungen beim Rentenalter wissen wollen, hat sich die SPD bei ihrem umstrittenen Herzensprojekt Bürgergeld eine härtere Linie auferlegt.

Hubertus Heil (l, SPD), Bundesminister für Arbeit und Soziales, wird von Lutz Neumann, Geschäftsführer des Jobcenters Berlin Lichtenberg, durch das Jobcenter geführt. Heil besucht anlässlich der Kabinettbefassung zum Bürgergeld-Gesetz das Jobcenter Berlin-Lichtenberg und informiert sich über den besonderen Betreuungs- und Vermittlungsansatz.
Bundessozialminister Hubertus Heil (l.) beim Besuch eines Berliner Jobcenters. © Annette Riedl/dpa-pa

SPD fordert Sanktionen gegen Bürgergeld-„Totalverweigerer“ und Schwarzarbeiter

„Es geht um schärfere Sanktionen gegen sogenannte Totalverweigerer, die Jobangebote wiederholt ablehnen, sowie gegen Bürgergeldbezieher, die beim Schwarzarbeiten erwischt werden“, sagt Parteichef Lars Klingbeil den Funke-Zeitungen. Zuvor hatte bereits SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich angekündigt, „nicht durchgehen zu lassen, wenn jemand das System ausnutzt“. Vielleicht, so Mützenich, hielten sich „manche Menschen zu lange im Bürgergeldsystem auf. Und ein Teil der Flüchtlinge aus der Ukraine hat offenbar einen Mehrwert abgeschöpft, der nicht gerechtfertigt ist.“

Neue Töne, könnte man auf den ersten Blick denken. Doch hat SPD-Sozialminister Hubertus Heil bereits vor einem Jahr Verschärfungen angekündigt: „Wer nicht mitzieht und sich allen Angeboten verweigert, muss mit härteren Konsequenzen rechnen“, sagte er damals. Und tatsächlich gab es auch Bewegung. Seit März können Jobcenter Arbeitslosen das Bürgergeld für maximal zwei Monate streichen, wenn die Aufnahme einer Arbeit nachhaltig verweigert wird. Weitere Verschärfungen waren geplant, wurden von der Ampel im Verfall der inzwischen geplatzten Koalition aber nicht mehr umgesetzt.

Agentur für Arbeit spricht weniger Bürgergeld-Sanktionen aus

Aktuelle Zahlen, über die Bild zuerst berichtete, zeigen allerdings: Ob nun hart oder weich – Sanktionsmöglichkeiten gegen Arbeitsverweigerer kommen ohnehin immer seltener zur Anwendung. Während 2007 noch mehr als 183 000 solcher Sanktionen verhängt wurden, waren es 2019 noch 82 000 – und das, obwohl die Zahl der Empfänger in der gleichen Zeit nur um rund ein Viertel zurückgegangen sei. 2021 waren es dann rund 52 000 Sanktionen.

Und die Zahlen sinken weiter. 2022 wurden rund 33 000 erwerbsfähige Empfänger sanktioniert. 2023 – im Jahr, in dem das Bürgergeld eingeführt wurde –, seien es nur noch knapp 19 000 gewesen. Im Jahr 2024 scheint sich dieser Trend zu bestätigen. „Von Januar bis August 2024 – neuere Zahlen liegen wegen der 3-monatigen Wartezeit noch nicht vor – wurden wegen Weigerung zur Aufnahme oder Fortführung einer Arbeit, Ausbildung, Maßnahme oder eines geförderten Arbeitsverhältnisses 14 487 Leistungsminderungen neu ausgesprochen“, teilt die Bundesarbeitsagentur auf Nachfrage unserer Zeitung mit. Die „gleitende Jahressumme von September 2023 bis August 2024“ liege bei 21 730.

Fratzscher beklagt Irreführung der Wähler

Der Ökonom Marcel Fratzscher hat den Parteien quer durch alle politischen Lager unlautere Wahlversprechen vorgeworfen. „Was mich schockiert, ist, dass die Parteien die Wähler und die Wählerinnen hinters Licht führen wollen“, sagte der Chef des Deutschen Wirtschaftsforschungsinstituts DIW der „Augsburger Allgemeinen“. „Die Parteien trauen den Wählerinnen und Wählern nicht die Wahrheit zu – und sie überbieten sich mit Wahlversprechen.“ Fratzscher präsentierte Berechnungen zu den Kosten der Wahlversprechen. Spitzenreiter sei die FDP mit 138 Milliarden Euro Steuererleichterungen zum größten Teil für die Topverdiener, gefolgt von der Union mit 99 Milliarden sowie SPD und Grüne mit Entlastungen von 30 Milliarden und 48 Milliarden Euro. „Das ist auch kein Pappenstiel“, sagte der Institutschef. „Das ist das, was ich mit Hinters-Licht-Führen meine.“ Fratzscher verwies auf den großen Investitionsbedarf in Deutschland, wofür der Staat viele Mittel benötige.

„Begrenzte Aussagekraft“: Bürgergeld-Sanktionen nach Gerichtsurteil und Corona angepasst

Die Arbeitsagentur legt allerdings Wert darauf, dass der Vergleich verschiedener Jahre „nur eine sehr begrenzte Aussagekraft“ habe. Ein Grund dafür sei das 2019 erfolgte Urteil des Bundesverfassungsgerichts, wonach ein Teil der bisher erfolgten Sanktionen verfassungswidrig war. „Das Urteil hatte unmittelbar und sofortige Auswirkung auf die Arbeit in den Jobcentern; die Sanktionspraxis wurde den Vorgaben des Verfassungsgerichtsurteils angepasst“, führt ein Sprecher aus.

Die Corona-Pandemie habe dann weitere Auswirkungen auf das Vorgehen der Jobcenter gehabt. „So galt z. B. ab dem 18.3.2020 vorübergehend die Regelung, dass ein nicht wahrgenommener Termin keine Rechtsfolgen hatte. Auch gesetzte Fristen wurden ab dem 18.3.2020 vorerst ausgesetzt.“ Vor Einführung des Bürgergelds hätten dann aufgrund eines „Sanktionsmoratoriums“ ebenfalls Einschränkungen gegolten.

Leistungsminderung bei Bürgergeld „letztes Mittel“ – nur wenige tatsächliche „Totalverweigerer“

Grundsätzlich, so der Sprecher der Bundesagentur, sei es zudem „wichtig zu wissen, dass die Verhängung einer Leistungsminderung immer nur als letztes Mittel angewendet wird, wenn eine Kundin oder ein Kunde erkennbar nicht daran mitwirkt, die eigene Hilfsbedürftigkeit zu beenden“. Dies betreffe „nur einen sehr geringen Prozentsatz aller Bürgergeldbeziehenden“. Der weit überwiegende Teil arbeite aktiv mit. Sogenannte „Totalverweigerer“ seien entsprechend noch seltener.

Im Haushalt für 2025 sind 45,3 Milliarden Euro für das Bürgergeld eingeplant – rund 2,5 Milliarden weniger als 2024.

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