Immer weniger Bürgergeld-Sanktionen für Arbeitsverweigerer: Das ist der wahre Hintergrund

  1. Startseite
  2. Wirtschaft

Kommentare

Seit Jahren geht die Zahl der Sanktionen für Arbeitsverweigerer zurück. Doch das Bürgergeld ist nicht allein die Ursache. Was ist der wahre Grund?

Berlin – Die Zahl der Sanktionen im Bürgergeld geht insgesamt deutlich zurück. Das gilt auch für Erwerbslose, die mehr als einmal eine Arbeit, eine Ausbildung oder eine Maßnahme verweigern. Auch die sogenannten Arbeitsverweigerer müssen seit Jahren weniger Kürzungen der Sozialleistung hinnehmen.

Arbeitsverweigerer im Bürgergeld erhalten immer weniger Sanktionen

2007 verhängten die Jobcenter noch 183.430 Sanktionen gegen sogenannte Arbeitsverweigerer. In den zwölf Monaten von September 2023 bis August 2024, also nach der Einführung des Bürgergelds, waren es noch 21.730. Dabei handelt es sich um die neusten verfügbaren Zahlen. Denn: Obwohl es seit April 2024 die Möglichkeit der Streichung des gesamten Bürgergeldes für Totalverweigerer gibt, hat die Bundesagentur für Arbeit dazu noch keine Zahlen.

Für Arbeitsverweigerer gab es 2018 noch 95.616 Leistungskürzungen, 2019 noch 82.981. Den niedrigsten Wert gab es mit 18.392 Sanktionen im Corona-Jahr 2020, ehe es 2021 wieder einen Anstieg auf 52.174 gab.

Tabelle zeigt Rückgang der Bürgergeld-Sanktionen für Arbeitsverweigerer

Jahr Sanktionen für Arbeitsverweigerer
2007 183.430
2008 166.453
2009 133.071
2010 133.563
2011 139.957
2012 137.113
2013 126.840
2014 117.096
2015 99.462
2016 93.327
2017 98.864
2018 95.616
2019 82.891
2020 18.392
2021 52.174
September 2023–August 2024 21.730

Unabhängig von dem Fehlverhalten der Erwerbslosen geht die Zahl der Sanktionen zurück – und zwar nicht erst seit Einführung des Bürgergelds am 1. Januar 2023. Bereits zuvor ist die Entwicklung zu beobachten. 2013 lag die Zahl aller Leistungsminderungen bei über einer Million, 2023 waren es 226.008. Die deutliche Mehrheit wird wegen Meldeversäumnissen, also verpassten Terminen im Jobcenter, verhängt.

Bereits vor dem Bürgergeld: Bundesverfassungsgericht ist Grund für Rückgang der Sanktionen

Der Rückgang der Sanktionen gegen Leistungsbezieher, ob allgemein oder wegen Arbeitsverweigerung, ist damit nicht allein die Bürgergeld-Reform. Darauf hatte auch das Bundesarbeitsministerium in einer Antwort auf eine Anfrage der Unionsfraktion verwiesen. Ursache ist vor allem ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts im November 2019. Kürzungen über 30 Prozent sind demnach nicht mit dem Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum vereinbar.

Zu viele junge Leute ohne Aus-, Weiterbildungs- oder Arbeitsplatz
Nicht erst seit dem Bürgergeld: Jobcenter verhängen immer weniger Sanktionen gegen Arbeitslose, die Jobangebote ausschlagen. (Symbolfoto) © Jens Kalaene/dpa

Die Bundesagentur für Arbeit hatte das Urteil über Weisungen an die Jobcenter umgesetzt, was laut Arbeitsministerium zu einer „zurückhaltenden Anwendung“ der Sanktionen geführt habe. Die Ampel-Koalition hatte das Urteil mit dem Bürgergeld in Gesetzesform umgesetzt. Darin hatte die Bundesregierung auch den Vermittlungsvorrang aufgehoben, so dass Weiterbildung und der Erwerb eines Berufsabschlusses eine höhere Priorität haben, als eine schnelle Aufnahme einer – möglicherweise unpassenden – Arbeit.

Corona, Sanktionsmoratorium, weniger Arbeitslose als weitere Ursachen für weniger Sanktionen im Bürgergeld

Weitere Gründe für die geringeren Sanktionen in den letzten Jahren war die Corona-Krise sowie das Sanktionsmoratorium in der zweiten Hälfte des Jahres 2022. Zu den Sanktionen für das Ausschlagen eines Jobangebots gibt es keine Zahlen. Insgesamt stellte 2022 mit etwa 150.000 den niedrigsten Wert dar.

Zudem ist zu beobachten, dass die Zahl der Leistungsbezieher im langen Zeitraum ab 2007 zurückgegangen ist. Im Januar 2007 gab es knapp 2,6 Millionen arbeitslose Leistungsberechtigte, im September 2023 waren es etwa 1,7 Millionen. Die Gesamtzahl der Bürgergeld-Empfänger ist höher, weil darin auch Kinder und Jugendliche, nicht erwerbsfähige Menschen sowie Aufstocker, deren Gehalt nicht ausreicht, enthalten sind.

Jobs würden nur selten abgelehnt, betont Helena Steinhaus vom Verein Sanktionsfrei in der Debatte um härtere Sanktionen immer wieder. „Wenn es doch dazu kommt, stimmen die äußeren Rahmenbedingungen für die betroffene Person nicht“, hatte Steinhaus IPPEN.MEDIA erklärt. Viele bekommen unpassende Stellenangebote. Ein Spielsüchtiger habe etwa eine Stelle als Hausmeister in einem Casino angeboten bekommen.

„Richtiges Maß“ bei Sanktionen im Bürgergeld entscheidend

Die Bedeutung der Sanktionen für die Vermittlung der Bürgergeld-Empfänger in Arbeit ist zudem umstritten. „Eine verstärkte Sanktionierung ist kein Allheilmittel, um Beschäftigungsmaßnahmen sicherzustellen“, erklärte etwa Bernd Fitzenberger, Direktor des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung. Sein Kollege, der Arbeitsmarktforscher Enzo Weber, stellte gegenüber IPPEN.MEDIA klar: „Sanktionen erhöhen die Jobaufnahmen.“

Dabei kommt es für Weber jedoch nicht auf „eine möglichst scharfe Ausgestaltung, sondern auf das richtige Maß“ an. „Je stärker der Druck, desto wahrscheinlicher wird es aber auch, dass Arbeitssuchende Jobs antreten, die keine lange Perspektive bieten und bald wieder in Arbeitslosigkeit enden.“ Für eine Vermittlung in Arbeit komme es neben der „Verbindlichkeit des Systems“, die durch Sanktionen gesichert werden soll, auf „Qualifizierung, individuelle Unterstützung und Betreuung sowie gute Anreize“ an.

Auch interessant

Kommentare