Dobrindts Grenzkontrollen haben gefährlichen Nebeneffekt: Polen als „warnendes Beispiel“
Jochen Kopelke im Interview über Grenzkontrollen, Drohnenabwehr und neue Gefahren: Was die Polizei aus der Ukraine lernt und welche Folgen das für Deutschland hat.
Berlin – Den Espresso-Barista lässt Jochen Kopelke links liegen. Filterkaffee soll es sein. „Wie aus den großen Tonnen auf der Wache“, sagt der Chef der Gewerkschaft der Polizei (GdP) und schlendert mit Kaffeetasse in der Hand weiter durch die Messehalle. Hunderte Polizisten aus dem In- und Ausland sind zum Europäischen Polizeikongress in die Messe Berlin gekommen. Und Kopelke, der Netzwerker, kennt viele von ihnen, klopft auf Schultern, grüßt Grüppchen. Auch aus Litauen, Polen und anderen Ländern mit Grenzen zu Russland sind viele Einsatzkräfte angereist, der Gewerkschafter hatte sich im Vorfeld um sie bemüht. Aus gutem Grund, wie er im Interview verrät.
Herr Kopelke, Sie vernetzen sich gerade intensiv mit Ihren Kollegen aus Osteuropa. Warum?
Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine sorgt für viel Unsicherheit bei den Polizeien in Europa. Die Polizeien in Polen, Litauen, Estland oder Finnland sehen eine akute Gefahr durch Putin und stellen sich beim Thema Sicherheit ganz anders auf als wir in Deutschland.

Inwiefern?
Die schauen sich in der Ukraine ab, worauf sich die Polizei im Kriegsfall vorbereiten muss. In der Ukraine hat die Polizei tagtäglich mit der Erstversorgung von Schusswunden zu tun oder muss Plünderungen verhindern. Auch in Deutschland müssen wir uns auf solche Szenarien vorbereiten. Ukrainische Polizisten sind im Moment nur wochenweise im Dienst, dann kämpfen sie im Krieg.
Ukraine-Krieg beeinflusst Polizeiarbeit: „Müssen unser Mindset ändern
Polizisten, die auch militärische Aufgaben übernehmen – das ist in Deutschland nur schwer vorstellbar.
In der Tat. Die Trennung von Militär und Polizei ist eine Errungenschaft. Aber seit dem Ukraine-Krieg müssen wir unser Mindset ändern und überlegen, welche Rolle die Polizei im Krisenfall oder bei Attacken einnehmen kann.
Soll das heißen, dass die Polizei auch militärische Angriffe abwehren soll?
Nehmen wir das Thema Drohnen. Nach wie vor ist in Deutschland die Frage nicht geregelt: Wer holt eine Drohne, die bedrohlich über einer Chemiefabrik oder über Bundeswehrstandorten unterwegs ist, runter? Obwohl wir schon viele Fälle mit klarem Bezug nach Russland hatten. Unsere europäischen Nachbarn fragen sich, warum wir das noch nicht gelöst haben. Denn viele wünschen sich, dass Deutschland Vorreiter beim Thema Verteidigung ist.
Die Bundesregierung macht die Polizei gerade vor allem zu Grenzschützern. Was halten Sie von den verschärften Grenzkontrollen?
Ein warnendes Beispiel kann Polen sein. Dort hat man viele Polizisten aus anderen Bereichen, also aus der Verkehrspolizei, aus der Kripo, abgezogen und an die Grenzen nach Belarus geschickt. Die machen alle nur noch Grenzkontrolle, während in den Ortschaften die Polizeiarbeit zusammenbricht.
Droht das hier auch?
Wir sprechen in Deutschland schon lange über eine Zunahme von Umfeldkriminalität an den Bahnhöfen. Wenn die Bundespolizei an die Grenzen muss, fehlt dort Personal, das ist unausweichlich. Paradoxerweise kann die Maßnahme also im schlechtesten Fall für mehr Unsicherheit im Inneren führen.
Grenzkontrollen: „Dobrindt soll die gesamte Sicherheit der Bundesrepublik im Auge haben“
Was erwarten Sie von Innenminister Dobrindt?
Meine Erwartung ist, dass er die gesamte Sicherheit der Bundesrepublik im Auge hat und nicht nur die Grenzsicherheit. Und dass seine Behörden auch im europäischen Kontext sieht, wie es im Koalitionsvertrag steht.
Darin heißt es, man will für Maßnahmen gemeinsam mit den europäischen Nachbarn sorgen.
Genau, aber so wirkt es im Moment nicht. Unsere Kollegen im Ausland fragen uns: Was macht ihr da eigentlich? Es ist nichts abgestimmt. Und das ist eigentlich untypisch für Polizeiarbeit. Alexander Dobrindt sollte deshalb schnell wieder in den europäischen Weg umschwenken. Außerdem haben wir mit Frontex ja schon eine europäische Grenzschutzbehörde. Deren Präsident übrigens Deutschland zuletzt Frontex-Einsatzkräfte zur Unterstützung angeboten hat und das nicht angenommen wurde. Das verstehe ich nicht.
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Alexander Dobrindt war neulich in Polizeijacke bei einem Pressetermin im bayerischen Grenzgebiet unterwegs. Wie fanden Sie den Auftritt?
Ich finde es immer gut, wenn politisch Verantwortliche unsere Einsatzkleidung anziehen. Ich hätte mir aber gewünscht, dass er sich mal eine Zwölf-Kilogramm-Körperschutzausrüstung anzieht, um zu sehen, was seine Einheiten stundenlang in Deutschland so leisten. Er konnte die Jacke ausziehen, wir dürfen das nicht.
Zuletzt gab es kurz hintereinander teils schwere Attacken auf Polizisten. Einer Ihrer Kollegen schwebte nach einem Messerangriff vorübergehend in Lebensgefahr. Was geht in Ihnen vor, wenn Sie solche Nachrichten hören?
Es macht mich sehr betroffen. Ich bin selbst im Dienst schon verletzt worden und wünsche mir, dass die Kollegen jegliche Hilfe bekommen: ärztliche Versorgung, psychologische Versorgung, familiäre Nachsorge. Das ist mein erster Gedanke.
Und der zweite?
Im zweiten Schritt denke ich: schon wieder ein Messer. Schon wieder ein Stich in den Hals, wie beim Angriff in Mannheim. Es gibt Ausstattung, die uns genau vor so etwas schützen könnte. Aber die haben wir nicht. Auf der Innenministerkonferenz 2024 wurde versprochen: Wir kümmern uns. Daraus ist nichts geworden, nur das Saarland hat Schutzausstattung besorgt. Von der neuen Bundesregierung erwarte ich an der Stelle mehr Pragmatismus.
Mit Millionenpaketen macht die Regierung jetzt Geld für Investitionen locker. Wo ist bei der Polizei der größte Bedarf?
Allein das BKA hat Riesenprobleme mit Rechenzentren, es fehlt an Speicherkapazitäten und Rechenleistung. Insgesamt müssen wir bei der Digitalisierung enorm aufholen.
Anstieg bei rechtsextremen Straftaten: Neues Gesetz auch wegen AfD
Hoffen Sie aufs neue Digitalministerium?
Ehrlich gesagt hoffe ich eher, dass das größte Polizeidigitalprojekt P20, mit dem die Infrastruktur der Polizei von Grund auf modernisiert werden soll, nicht ins Digitalministerium wandert.
Warum das?
Meine Sorge ist, dass dieses sehr spezielle Thema im Digitalministerium eine geringere Priorität erhält, wenn dort keine Spezialisten drauf schauen. Wenn es nach mir geht, soll weiterhin das Innenministerium federführend sein.
Gerade erst hat ein BKA-Bericht gezeigt, dass die Zahl rechtsextremer Straftaten enorm zugenommen hat. Woran liegt das?
Wir erleben in allen Bereichen der Gesellschaft eine Polarisierung. Und ich glaube, dass politische Akteure aus dem rechtsextremen Spektrum zur Radikalisierung beitragen.
Sie meinen die AfD?
Ja, es findet eine Normalisierung rechtsextremer Positionen statt. Und der Ton auf den Fluren im Bundestag ist deutlich rauer geworden. Es gibt Straftaten, Bedrohungen und Einschüchterungen. Oder aber Besuchergruppen, die problematisch sind. Deshalb fordern wir als Gewerkschaft auch ein neues Bundestagspolizeigesetz.
Was soll das bringen?
Dass die Polizei im Bundestag mehr Kompetenzen hat, um politische Straftaten aufzuklären und zu verhindern. Der Deutsche Bundestag selbst braucht ein Sicherheitsupdate in der Gesetzgebung für die Polizei auch angesichts des sehr groß gewordenen AfD-Blocks.
Wie stehen Sie zu einem AfD-Verbot?
Wenn man ein AfD-Verbot anstrebt, dann muss es auch klappen. Denn wenn es nicht klappt, gibt es Sieger, die wir nicht brauchen. Ich bin der Ansicht, dass ein Verbotsverfahren mittelfristig angestrebt werden könnte, so nehme ich jedenfalls alle Bemühungen der Sicherheitsbehörden wahr.
Also wären Sie für ein Verbot?
Das ist letztlich eine politische Entscheidung. Und politisch Verantwortliche werden im Nachhinein bei einem Verbotsverfahren dafür verantwortlich gemacht, ob es klappt oder nicht. Es ist eine Riesenaufgabe, für die es viel politischen Willen und eine breite Unterstützung braucht. Die scheint ja gerade zu kommen. Ich gehe jedenfalls fest davon aus, dass dazu bis Ende des Jahres politische Entscheidungen getroffen sind. Was die Polarisierung betrifft, müssen wir alle aber dafür sorgen, dass wieder mehr Frieden und Vernunft in unsere Kommunikation einzieht.
In sozialen Medien scheint das oft schwierig, weil Algorithmen provokante Aussagen und Polarisierung belohnen. Als Gewerkschafter sind Sie auch viel bei Facebook oder Linkedin unterwegs. Macht Ihnen das eigentlich Spaß?
Ich finde Social Media mega gut. Da erreiche ich Menschen, denen ich im Alltag gar nicht begegnen könnte. Die Algorithmen können zwar in der Tat ein Problem sein, aber gerade für uns als Polizei sind soziale Medien eine Riesenchance.
Inwiefern?
Zum Beispiel machen Menschen wegen Social Media ständig Handyvideos. Auch von Tatgeschehen, die sie dann bei uns hochladen können. Mit unserem normalen Content und ab und an einem witzigen Clip steigern wir unsere Reichweite, damit wir dann im Ernstfall ganz viele Menschen erreichen können. Und wir erfahren, was die Menschen eigentlich wirklich von der Polizei erwarten.
Was wäre das?
Aktuell vor allem mehr Präsenz und Schnelligkeit.
Ist es ein Spagat für Sie, in den sozialen Medien einen Ton zu treffen, mit dem Sie möglichst viel Aufmerksamkeit erzeugen, und andererseits sachlich zu bleiben?
Nö. Ich finde das im persönlichen Handling nicht schwer, die richtige Überschrift für eine tolle Veranstaltung oder für ein brisantes Thema zu finden. Wichtig ist, dass man auch wirklich Inhalte liefert und nicht nur auf den Aufreger aus ist.
Sie haben selbst mal für einen Aufreger gesorgt, als Sie vorgeschlagen haben, dass jeder, der ein verbotenes Messer abgibt, ein Jahr Netflix umsonst bekommt. Wie waren die Reaktionen der Kolleginnen und Kollegen?
Die waren überwiegend kollegial. Ich habe mich dafür entschuldigt, weil ich eine Perspektive nicht eingenommen habe. Insbesondere aus den Jugendbereichen kam der Hinweis, dass Menschen damit Geld machen könnten. Die geben ihr Messer ab, bekommen Netflix, und holen sich ein neues Messer. Straftaten dürfen nicht belohnt werden. Aber der Grundgedanke ist nach wie vor richtig und ist als Waffenamnestie am Ende sogar durch die Ampel verankert worden.
Also als Präventionswerkzeug?
Als Puzzleteil für „nicht nur Repression“, so muss man es formulieren.
Klingt, als käme Ihnen Prävention grundsätzlich zu kurz?
Wenn wir Menschen die Chancen geben können, rechtzeitig von was Dummem oder Verbotenem zurückzutreten, sollten wir das immer machen. Das kann eine Waffenamnestie sein, aber auch Gesprächsangebote und Hilfsangebote. So was zu sagen, ist heutzutage aber nicht mehr so en vogue.
Warum?
Vielen ist das zu kuschelig. Die wollen harte Linie. Und Repression muss es geben, aber man muss mehr als Repression anbieten. Sonst funktioniert keine Gesellschaftsveränderung, diese Erkenntnis haben wir aus der Wissenschaft.