„Er lügt“ - Russlands Ex-Außenminister erhebt schwere Vorwürfe gegen Putin

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Der russische Staatschef Wladimir Putin glaubt, von der Nato betrogen worden zu sein.
Der russische Staatschef Wladimir Putin glaubt, von der Nato betrogen worden zu sein. © IMAGO/Valeriy Sharifulin

Putin zufolge hat sich die Nato unrechtmäßig nach Osten ausgedehnt. Der ehemalige russische Außenminister widerspricht. Was wurde 1990 versprochen?

Moskau – Nicht erst seit Beginn des Ukraine-Kriegs erinnert der russische Staatschef Wladimir Putin gerne daran, dass die Nato ihr Versprechen gebrochen habe, sich niemals weiter gen Osten auszudehnen. Andrej Kosyrew, früher russischer Außenminister, hat dem jetzt vehement widersprochen. Ihm zufolge hat das Erweiterungsversprechen der Nato nie existiert. Es sei „nicht wahr“, dass es Zusicherungen gegeben habe, sagte Kosyrew der ukrainischen Zeitung Kyiv Post.

Trotz umfangreicher Nachforschungen des russischen Außenministeriums während seiner Amtszeit als Minister habe sein Team keine Beweise dafür finden können, dass Washington Michail Gorbatschow jemals ein solches Versprechen gegeben habe, so Kosyrew gegenüber dem Blatt. „Als ich Außenminister war, haben wir versucht, eine Spur davon in Archiven zu finden, und wir sind gescheitert. Und Gorbatschow ... bestritt später, irgendeine Art von Zusicherung erhalten zu haben. Meines Wissens ist das völliger Unsinn“, so der ehemalige Außenminister weiter. Eine Aussage, die in völligem Widerspruch zu denen Putins steht.

„Komplexe und Stereotypen über die russische Bedrohung“ - Putin behauptet, die Nato sei im Unrecht

Kurz vor dem russischen Angriff auf die Ukraine am 24. Februar 2022 erläuterte Putin in einer Rede seine Haltung zur Nato-Osterweiterung. Er behauptete, dass die Vereinigten Staaten 1990 mündlich zugesichert hätten, dass die Wiedervereinigung Deutschlands nicht zu einer Ausdehnung der Nato nach Osten führen würde. Zudem hätten die USA damals gesagt, dass der Beitritt von mittel- und osteuropäischen Ländern zur Nato die Beziehungen verbessern würde. Putin zufolge ist aber das Gegenteil passiert. Die neuen Mitgliedsländer, so der russische Staatschef, hätten „ihre Komplexe und Stereotypen über die russische Bedrohung“ in das transatlantische Bündnis hineingetragen - und auf einen Ausbau des Verteidigungspotenzials beharrt.

Wer ist Andrej Kosyrew?

Andrej Kosyrew durchlief, erst in der Sowjetunion und dann in Russland, die diplomatische Laufbahn, bevor er schließlich unter Boris Jelzin zum Außenminister ernannt wurde; ein Amt, das er zwischen 1992 und 1996 innehatte. Heute lebt er außerhalb Russlands.

Für Putin war der Überfall auf die Ukraine somit ein logischer Schritt. Immerhin sei ein möglicher Nato-Beitritt der Ukraine „eine direkte Bedrohung für die Sicherheit Russlands“ gewesen - man habe also handeln müssen, so der russische Präsident am Vorabend des Einmarschs. Es war nicht das erste Mal, dass er eine solche Behauptung aufstellte. Bereits auf der Münchener Sicherheitskonferenz im Jahr 2007 behauptete Putin, der Westen breche sein Versprechen, von einer Erweiterung der Nato nach Osten hin abzusehen. Auch Putins Vorgänger im Amt hatten gerne über diese gebrochene Zusage lamentiert - zu Recht?

Die Nato darf sich nach Osten hin erweitern - Russland hat diesbezüglich einen Vertrag ratifiziert

Der Historikerin Mary Elise Sarotte zufolge, muss man „die Frage der Nato-Erweiterungsgeschichte von der Frage der Ukraine“ in jedem Fall trennen, wie sie gegenüber dem österreichischen Standard anmerkte. Was damals genau passiert sei, sei im Nachgang allerdings schwer festzustellen. Die Wahrheit liege irgendwo auf dem Spektrum zwischen dem Gefühl des Betrogenseins der Sowjetunion und der US-amerikanischen Behauptung, das Thema sei damals überhaupt nicht aufgekommen. Fest stehe, dass es den sogenannten Zwei-plus-vier-Vertrag in rechtlich bindender Form gebe. In diesem stehe klar, dass die Nato „sich jenseits der Frontlinie vom Kalten Krieg“ nach Osten hin erweitern dürfe.

Was ist der sogenannte Zwei-plus-vier-Vertrag?

Der Zwei-plus-Vier-Vertrag, offiziell als „Vertrag über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland“ bekannt, wurde am 12. September 1990 in Moskau unterzeichnet. Er war ein entscheidender Schritt zur deutschen Wiedervereinigung und wurde von den beiden deutschen Staaten, der Bundesrepublik Deutschland (Westdeutschland) und der Deutschen Demokratischen Republik (Ostdeutschland), sowie den vier Besatzungsmächten des Zweiten Weltkriegs – den Vereinigten Staaten, der Sowjetunion, dem Vereinigten Königreich und Frankreich – ausgehandelt und unterzeichnet.

Wichtige Punkte waren:

Souveränität Deutschlands: Der Vertrag beendete die alliierten Vorbehaltsrechte in Deutschland und stellte die volle Souveränität des wiedervereinigten Deutschlands her.
Grenzregelungen: Deutschland bestätigte seine bestehenden Grenzen, insbesondere die Oder-Neiße-Grenze zu Polen, und verzichtete auf territoriale Ansprüche.
Truppenabzug: Die sowjetischen Truppen sollten bis 1994 aus dem Gebiet der ehemaligen DDR abgezogen werden, während die alliierten Truppen in Westdeutschland bleiben konnten.
Militärische Beschränkungen: Deutschland verpflichtete sich, keine ABC-Waffen (atomare, biologische und chemische Waffen) zu besitzen oder herzustellen und die Größe seiner Streitkräfte auf 370.000 Soldaten zu begrenzen.
NATO-Mitgliedschaft: Deutschland durfte Mitglied der NATO bleiben, jedoch wurde vereinbart, dass keine ausländischen NATO-Truppen oder Atomwaffen auf dem Gebiet der ehemaligen DDR stationiert werden.
Abschließende Friedensregelung: Der Vertrag stellte die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland dar und ersetzte den fehlenden formellen Friedensvertrag nach dem Zweiten Weltkrieg.

Moskau habe diesen „Vertrag nicht nur unterschrieben, nicht nur ratifiziert, sondern auch die damit verbundenen finanziellen Zuschüsse einkassiert“; so die Historikerin. Den Quellen nach habe der damalige US-Außenminister James Baker während der Verhandlungen zu Gorbatschow gesagt: „Wie wäre es, wenn Sie Ihre Hälfte der DDR freigeben würden? Und wir würden Ihnen sagen, die Nato erweitert sich also ‚not one inch‘ (keinen Zoll oder Schritt weiter) nach Osteuropa“. Das sei jedoch ein reines Gedankenspiel gewesen. George Bush Senior habe sich hingegen nicht derartig festlegen wollen. Daher habe er seinen Außenminister gesagt, dieser habe sich „zu weit aus dem Fenster gelehnt“.

Nato hat sich freiwillig verpflichtet - Wurde Gorbatschow bewusst im falschen Glauben gelassen?

Richtig sei, dass es die sogenannte Nato-Russland-Grundakte von 1997 von gebe. Diese besagt, dass in den neuen Nato-Mitgliedsstaaten in Osteuropa weder Atomwaffen noch größe Kontingente von Nato-Truppen stationiert werden. Beide Seiten verpflichteten sich zudem, die Souveränität aller Staaten zu achten. Allerdings, so Sarotte, sei diese Grundakte „kein Vertrag, das heißt, nicht rechtlich bindend“.

Eine andere Sicht auf die Geschehnisse hat der Journalist Andreas Zumach, der zwischen 1988 und 2020 UN-Korrespondent der taz war. In einem Beitrag auf dem Newsblog Extradienst verweist er auf von der Geheimhaltung freigegebene Dokumente des National Security Archive der USA. Diesen Dokumenten nach wurde Gorbatschow bewusst „in dem Glauben gelassen“, dass die Zusicherung Bakers, aufrichtig gewesen sei. Gleichzeitig sei in westlichen Regierungskreisen aber schon damals darüber nachgedacht worden, die Nato nach Osten auszudehnen. Es sei aber, so Zumach, zweifelsfrei ein „handwerklicher Fehler“ gewesen, dass sich Gorbatschow „die im Februar 1990 gemachten Zusagen nicht schriftlich geben“ lassen habe. (tpn)

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