„Oh Schreck!“ begeistert an den Münchner Kammerspielen: Theater mit Biss!
Jan-Christoph Gockels Inszenierung von „Oh Schreck!“ an den Münchner Kammerspielen ist ein Aderlass vom Allerfeinsten. Unsere Premierenkritik.
Na dann: Prost, Mahlzeit! Es ist ja wahrlich nicht so, dass die Münchner Kammerspiele in den jüngsten Spielzeiten Probleme mit Überbuchung und Überbelegung des Zuschauerraums gehabt hätten. Dass das Haus nun aber beginnt, sein Publikum zu verspeisen, ist eine echte Ansage. Ja, es sprudelt, tropft und spritzt das Blut, als Linda aus dem Parkett zum „Meat & Greet“ mit dem Regisseur auf die Bühne kommt. Immerhin haben sie eine ausreichend große Abdeckfolie untergelegt, wäre sonst schade um die Bretter, die die Welt bedeuten. Spätestens jetzt ist klar: Dieses Theater hat (noch) Biss.

Dabei wurde ihm in Teilen der Presse unterstellt, „blutleer“ zu sein. Walter Hess erinnert daran, als er zu Beginn dieser Uraufführung am Freitag mit einer punktgenau präsentierten Stand-up-Nummer den Ton für die folgenden knapp zwei Stunden setzt. Den Vorwurf freilich kann man Jan-Christoph Gockels Inszenierung nun wirklich nicht machen. „Oh Schreck!“ ist Hämoglobin-Halligalli und ein Aderlass vom Allerfeinsten. Die Diagnose zum begeisterten Schlussapplaus: Blutverdünner braucht hier niemand. Es strömt auch so. Und wie.
Dabei täte man dieser „Vampirkomödie“ Unrecht, die Gockel gemeinsam mit seinem quicklebendigen Ensemble von Untoten erarbeitet hat, würde man sie auf ein scharlachrotes Schlachtfest reduzieren. Bei Sonnenlicht besehen, steckt nämlich deutlich mehr drin.
Grundlage ist Murnaus Stummfilm „Nosferatu - Eine Symphonie des Grauens“
Grundlage des Abends ist Friedrich Wilhelm Murnaus Stummfilm „Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens“ aus dem Jahr 1922; der Schauspieler Max Schreck wurde in der Titelrolle zur Legende. Der Mann war von 1919 bis 1922 sowie von 1926 bis zu seinem Tod 1936 an den Kammerspielen engagiert – und angeblich haust er nach wie vor in den Kellern des Gebäudes.
Zu viel Inhalt sei an dieser Stelle jedoch nicht verraten. Daher zum Fortgang der Handlung lediglich dies: „Oh Schreck!“ verschränkt Biografisches des Schauspielers mit der Geschichte seines berühmtesten Kinofilms, würzt das Ganze mit Verweisen auf das in zig Genres ach so häufig beackerte Vampir- und Horror-Genre. Abgeschmeckt wird alles mit einer Persiflage auf den Produktionsprozess am Theater, auf die Geschichte des Hauses und einer gruselig aktuellen Spiegelung unserer Gegenwart in der Vergangenheit.

Meine news
Dies glückt aus mehreren Gründen vortrefflich. Nur wenige Pointen zünden nicht. Und nur selten verliert die Inszenierung ihr hohes Tempo, dafür sorgt am rechten Bühnenrand auch Anton Berman, Zauberer an Tasten und Reglern. Seine Kompositionen scheppern und dröhnen, flirren und klirren, rocken und röhren, als ziehe ein Spielmannszug aus der Hölle durchs Schauspielhaus. Berman vergisst die musikalische Tradition des Genres nicht, interpretiert und ergänzt diese jedoch individuell.
Letzteres gilt auch für Sofiia Melnyk am linken Rand: Sie zeichnet live am Tablet die Bilder, die dann auf die Bühne projiziert werden. Vor allem, wenn gerade die Filmhandlung erzählt wird, entstehen da Landschaften und Szenerien, denen der Expressionismus seinen gezackten Odem eingeprägt hat. In Kombination mit Christian Schweigs toller Lichtsetzung ist das schaurig-schön.
Auch das Ensemble der Kammerspiele hat Blut geleckt
Damit ist die Schlachtplatte bestens angerichtet für ein Ensemble, das Blut geleckt hat – an diesem Irrsinn, an den jeweiligen Rollen. Ob das Leoni Schulz als genervt-coole Regieassistentin Isabell ist; ob das Walter Hess ist, der sogar ins Zahnlabor marschiert, um mit den untoten Kollegen mithalten zu können; ob das Katharina Bach ist, deren Kristine Van Helsing nicht nur durch deutsch-lateinische Wortakrobatik beeindruckt – oder Johanna Kappauf, die ihren stummen Stummfilmstar Max Schreck stets mit einer leisen Melancholie umgibt.
Da es jedoch im Vampir-Genre immer auch um Einsamkeit, deren Überwindung und den Schrei nach Liebe geht, finden zum Finale die beiden Letztgenannten zueinander. Wider aller Vernunft – welch Glück! Und weil dem so ist, platzen bei der anschließenden Party die Werwölfe vom Residenztheater und die Volkstheater-Zombies herein. Da tanzt selbst der Waschbär und das Blut kocht nochmals ordentlich hoch. Aber sehen Sie am besten selbst. Nächste Vorstellungen am 28. Januar 2025, 9. und 12. Februar 2025; Telefon 089/ 233 966 00.
Die Besetzung
Regie: Jan-Christoph Gockel.
Idee/Konzept: Jan-Christoph Gockel und Claus Philipp.
Bühne: Julia Kurzweg.
Kostüme: Sophie du Vinage.
Musik/Komposition:
Anton Berman.
Ensemble: Johanna Kappauf (Max Schreck, Vampir), ㈠Sebastian Brandes (Wolfgang, Regisseur), Leoni Schulz ㈠(Isabell, Regieassistentin), Nadège Meta Kanku (Claudia, Vampir), Frangiskos ㈠Kakoulakis (Vlad, Vampir), Jelena Kuljic (Svetlana, Vampir), Katharina Bach (Kristine Van Helsing, Vampirjägerin), Walter Hess (Walther von der Hess, wirkt wie ein Vampir), Dennis Fell-Hernandez (Dennis Dorn, Intendant), Michael Pietsch (Kurt Erich, Werkstätten-Leiter), Sofiia Melnyk (Vampir), Anton Berman (Igor, Stummfilm-Pianist), Nina Moortgat (Linda de Mol).