„Sie kam aus Mariupol“ an den Münchner Kammerspielen: Schaubilder des Lebens

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Wer steigt da noch durch? Die Geschichte der Mutter von Natascha Wodin ist auch eine Erzählung über Osteuropa im 20. Jahrhundert. Johanna Eiworth (re.) spielt in „Sie kam aus Mariupol“ die Autorin – Annika Neugart übernimmt die Rolle der jungen Natascha. © Maurice Korbel/Münchner Kammerspiele

Der ukrainische Theatermacher Stas Zhyrkov hat den Roman „Sie kam aus Mariupol“ von Natascha Wodin für die Münchner Kammerspiele adaptiert. Unsere Premierenkritik:

Irgendwann hilft selbst das umfangreichste Schaubild nicht weiter. Mit schwungvollen Kreidestrichen bringen die Zeichnungen von Sofiia Melnyk Beziehungen, Ereignisse und Orte auf die Leinwand im Schauspielhaus der Münchner Kammerspiele. Allein: Die Zeitläufte sind verworren, die Linien verknäulen sich. Doch wer hier gedanklich aus der Kurve fliegt, muss sich nicht grämen. Dem ukrainischen Regisseur Stas Zhyrkov gelingt es unter anderem mit diesem simplen Bild, einen Eindruck der wechselvollen Geschichte Osteuropas im 20. Jahrhundert zu vermitteln. Status: Es war und ist kompliziert.

„Sie kam aus Mariupol“ von Natascha Wodin erschien im Jahr 2017

In Momenten wie diesem wird besonders eindrücklich klar, dass die individuelle Biografie, die da auf der Bühne verhandelt wird, eine Stellvertreter-Funktion hat. Natascha Wodin schreibt in ihrem autofiktionalen Roman „Sie kam aus Mariupol“ zwar über ihre Mutter – blättert dadurch aber zugleich die Historie der Region auf. Das macht ihr Buch so besonders. Es ist die Geschichte einer Suche. 1956, als Natascha Kind war, hat sich Jewgenia Jakowlewna Iwaschtschenko, die „todtraurige Prinzessin“, ertränkt: „Zehn Jahre lang habe ich sie gekannt.“ Aus dieser Zeit erinnert sich Wodin, die 1945 in Fürth geboren wurde, vor allem an diesen Satz der Mutter: „Wenn du gesehen hättest, was ich gesehen habe ...“ Der „Kehrreim ihrer Kindheit“ war alles, was zu Hause über die Vergangenheit gesagt wurde. Wodins Mutter wurde 1920 in der ukrainischen Hafenstadt Mariupol geboren und mit ihrem Mann 1944 von den Nazis nach Deutschland verschleppt, wo sie als „Ostarbeiterin“ bei der zum Flick-Konzern gehörenden ATG Maschinenbau in Leipzig schuften musste. Oder war es doch anders?

Als Wodin ihr Werk, das heute vielfach ausgezeichnet und ein Bestseller ist, 2017 in München vorstellte, sagte sie im Gespräch diesen Satz: „Ich habe meine Mutter jetzt doppelt. Die, die ich gekannt habe – und die, die ich gefunden habe.“ Von beiden Hälften dieses schwer traumatisierten Menschen erzählt nun auch Zhyrkov in dieser Uraufführung, die am Freitag (20. September 2024) Premiere hatte.

Stas Zhyrkov inszenierte „Sie kam aus Mariupol“ eng an der Vorlage

Pavlo Arie und das vierköpfige Ensemble haben sich bei ihrer Adaption des Romans eng an die zentralen Handlungsstränge gehalten. Ausgangspunkt dieser 110 pausenlosen, dicht gewebten Minuten ist die Autorin, die an ihrem Schreibtisch in ihrer Wahlheimat Berlin den Namen der Mutter in die Suchmaschine des russischen Internets eingibt. Wie intim dieser Moment ist, zeigt die Regie, indem Johanna Eiworth dem Publikum den Rücken zuwendet. Und doch wird im Verlauf des Abends klar, wie viel Allgemeingültiges in dieser besonderen Familiengeschichte zu finden ist.

Zhyrkov begegnet ihr mit Respekt. Seine Inszenierung erzählt klassisch, vertraut auf den Text und die Schauspielerinnen. Neben Eiworth beeindrucken Annika Neugart, Michaela Steiger und ihr Kollege Konstantin Schumann durch genaues, empathisches Spiel, das das Publikum sicher durch jedes Verwandtschaftsgeflecht navigiert. In der Wucht dieser Geschichte entdeckt das Quartett zudem einen durchaus kernigen Humor, der sich in der Vorlage nicht so leicht vermittelt. Die Unfähigkeit über Erlittenes zu sprechen, unter der Wodin einst litt, wird auf der Bühne zu einem bedrohlichen Raunen, Seufzen, Flüstern der Eltern, an dem jedes Nachfragen zerschellt.

Neben dem Schreibtisch haben Jan Hendrik Neidert und Lorena Díaz Stephens ein raumhohes Haus gebaut. Dessen Wände jedoch sind aus Gaze – so instabil wie die Verhältnisse, in denen Natascha aufgewachsen ist. Die wenigen Fotos, welche die Autorin von ihrer Mutter besitzt, werden ebenso auf den Vorhang projiziert wie Aufnahmen aus der Zeit. Einzig auf die eingespielten Szenen mit animierten Wellen sowie auf manche Untermalung mit Musik hätte Zhyrkov verzichten dürfen: Dass persönliches Erleben und historische Wahrheiten nicht unbedingt miteinander zu tun haben müssen, wird sehr klar.

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