Die Grünen sind tief verunsichert – die große Zerreißprobe kommt erst noch

  • Im Video oben: Cem Özdemir will Ministerpräsident in Baden-Württemberg werden

In der Stadtbild-Debatte tritt offen zutage, wie sehr die Grünen derzeit auf der Suche nach sich selbst sind. Auf der einen Seite forderte Spitzenpolitiker Cem Özdemir eine sensiblere Sprache, aber auch das klare Adressieren von echten Problemen ein. Auf der anderen Seite stellte der Kreisverband Berlin-Kreuzberg Strafanzeige wegen Volksverhetzung gegen Kanzler Friedrich Merz (CDU).

Die beiden Grünen-Vorsitzenden Franziska Brantner und Felix Banaszak stehen vor der schwierigen Aufgabe, diese Sichtweisen von Realos und Linken irgendwie in einer Partei zu vereinen. Es hat lange gedauert, bis von den beiden mehr als pauschale Merz-Kritik kam. Als Banaszak am Wochenende einen Beitrag veröffentlichte, der eher Özdemirs Argumentation zuneigte, bekam er sofort wieder Gegenwind aus der links gerichteten Grünen Jugend.

Die Grünen haben drei große Probleme

Die Debatte ist nur ein Beispiel von vielen, bei denen die Grünen keine glückliche Figur machen. Spricht man dieser Tage mit Parteimitgliedern verschiedener Flügel und Landesverbände, fällt die Kritik einhellig aus. Drei Probleme stehen im Vordergrund:

  • Die Grünen reagieren zu spät: Banaszaks Gastbeitrag zum Stadtbild kam, als die Debatte schon fast zwei Wochen lief. Für den Parteitag im November unterstützen mehrere Bundestagsabgeordnete einen Antrag für ein verpflichtendes Gesellschaftsjahr – als die Wiedereinführung des Wehrdiensts bis auf Details von Union und SPD schon beschlossene Sache war.
  • Die Grünen reden sich die Lage schön: Das Ergebnis der Kommunalwahl in Nordrhein-Westfalen war nicht so katastrophal wie erwartet, aber auch alles andere als gut. Trotzdem gab es in der Partei Stimmen, die sich zufrieden damit zeigten. Auf Parteitagen gibt es zwar viel Debatte, aber auch sehr viel Selbstgewissheit, dass die Grünen mit ihren Ideen schon auf dem richtigen Weg liegen.
  • Die Grünen gelten als zerstritten: Immer wieder überziehen sich Realos und linker Flügel mit harten Vorwürfen. Inhaltliche Differenzen gibt es auch in anderen Parteien – doch entweder werden die intern gelöst, oder sie werden für den Erfolg der Partei zurückgestellt. Nicht so bei den Grünen. Die Basis hat mit ihren Anträgen und einem Voting für den Parteitag eine Homöopathie-Debatte auf die Tagesordnung gesetzt. Angesichts einer Vielzahl drängenderer Themen können die Grünen wohl damit wenig gewinnen, könnten aber im Ansehen der Bürger verlieren, wenn der Streit eskaliert.

Die Grünen sind in einem Verunsicherungs-Teufelskreis

Alle drei Probleme haben eine gemeinsame Wurzel: Die Grünen wissen nicht, wer sie sein wollen. Die Partei ist nach Höhenflügen und bitteren Niederlagen in den vergangenen Jahren tief verunsichert. In Teilen war sie das auch schon, als Robert Habeck noch in führenden Positionen war. Doch zumindest hatten die Grünen da noch einen Politiker an ihrer Spitze, der zwar nicht als parteiübergreifend beliebte, aber doch relevante Figur der deutschen Politik angesehen wurde.

Das ist mit Brantner und Banaszak anders. "Ansehen entsteht durch Klarheit in Positionen", erklärt ein Grünen-Politiker. Doch die Vorsitzenden würden die Klarheit scheuen, weil sie wissen, dass jedes falsche Wort wieder neuen Streit provozieren könnte. So agieren sie oft zögerlich, bleiben blass und können die Verunsicherung nicht durch ihre natürliche Autorität auflösen. Es ist ein Teufelskreis.

In einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Forsa wird deutlich, dass die beiden Vorsitzenden nicht bei allen Anhängern beliebt sind. Selbst bei Grünen-Fans kommen Brantner und Banaszak nur auf einen Wert von 55 beziehungsweise 56 von 100. Zwar erreichen die SPD-Vorsitzenden bei ihren eigenen Anhängern ähnliche Werte, aber die Chefs von CDU, CSU, AfD, Linker und BSW sind unter den eigenen Fans weitaus beliebter.

Brantner und Banaszak sind schwach, aber es gibt keine Alternativen

Auch in der Gesamtbevölkerung macht sich das bemerkbar. Im Forsa-Politikerranking landen beide Grünen-Vorsitzende im unteren Drittel. Banaszak erreicht ein Wert von 26, Brantner eine 27. Heidi Reichinnek schneidet zwar nur etwas besser ab, das aber mit einer weitaus kleineren Partei. Von der derzeit beliebtesten Oppositionspolitikerin sollen sich die eigenen Chefs vor allem den sehr direkten Kommunikationsstil abschauen, wünschen sich einige Grüne.

Trotz der Probleme glauben auch einflussreiche Grüne nicht, dass sich der Ärger über Brantner und Banaszak bei dem Parteitag Bahn brechen wird. Zumindest bei dem Thema sind sich die meisten einig, dass das die Partei noch mehr ins Chaos stürzen würde. Bessere Alternativen sind ohnehin nicht in Sicht. Nach den fünf Landtagswahlen im kommenden Jahr, wenn auf dem folgenden Parteitag turnusgemäß Vorstandswahlen anstehen, könnte das aber schon ganz anders aussehen.

Für die Realos geht es in Baden-Württemberg mit Özdemir um alles

Ohnehin werden die Landtagswahlen entscheidend für die Zukunft der Partei. Zum einen geht es allgemein darum, ob man noch breitere Wählerschichten erreicht oder weiter auf seine Kernwählerschaft zusammenschrumpft. Zum anderen steht die Frage im Raum, welcher Parteiflügel sich am Ende als Gewinner sehen kann.

Winfried Kretschmann und Cem Özdemir
Cem Özdemir will die Nachfolge des ersten Grünen-Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann in Baden-Württemberg antreten. Marijan Murat/dpa

In Rheinland-Pfalz, vor allem aber in Baden-Württemberg ticken die Grünen pragmatisch. Im Ländle tritt daher auch der prominente Realo Özdemir an, um den ersten grünen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann zu beerben. 

Gewinnt er die Landtagswahl, hätten die Realos ein starkes Argument, sich auch auf Bundesebene am pragmatischen Özdemir-Kurs zu orientieren. Verliert er, wäre der Flügel nach dem Habeck-Rückzug einem weiteren wichtigen Kopf beraubt – und Argumenten dafür, dass der eigene Kurs der richtige für die Partei ist.

Fünf Landtagswahlen 2026 drohen zur Zerreißprobe zu werden

Das kommende Jahr wird für die Grünen auch deshalb herausfordernd, weil neben den beiden Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz im März noch drei weitere anstehen: in Berlin, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt. Vor allem in der Hauptstadt ticken Partei und Wähler aber eher links.

Die Bundespartei steht deshalb vor der Herausforderung, im Frühjahr und Herbst die Landesverbände mit verschiedenen politischen Schwerpunkten zu unterstützen. Durch die zeitliche Zweiteilung der Landtagswahlen fällt das zwar etwas leichter, aber dennoch droht eine Zerreißprobe.

In der Bundestagsfraktion weisen Abgeordnete darauf hin, dass es unglaubwürdig wäre, zunächst ein paar Monate lang einen Realo-Kurs zu fahren und dann plötzlich auf einen linken Kurs umzuschwenken. Egal, wie unterschiedlich die Landesverbände ticken, sie müssten sich alle an den gleichen grünen Grundwerten orientieren. Andernfalls werde die Fraktion an der inhaltlichen Unschärfe leiden.

Grünen-Fraktion müsste eigentlich das Machtzentrum sein

Das können sich die Grünen aber nicht leisten. Die Fraktion muss gerade in Oppositionszeiten – und noch mehr mit schwachen Vorsitzenden – das Machtzentrum der Partei sein. Als die Fraktionsvorsitzenden Britta Haßelmann und Katharina Dröge nach der Bundestagswahl hart mit der Union über die Schuldenbremse verhandelten, sah es zunächst so aus, als könnte das gelingen. Vor allem Dröge schien auf dem Sprung zum neuen Gesicht der Grünen zu sein.

Ein halbes Jahr später ist die Stimmung in der Fraktion zwar immer noch besser als direkt nach der Bundestagswahl, aber deutlich trüber als nach dem Verhandlungserfolg im Frühjahr. Denn auch die Fraktion hat ihre Rolle noch nicht gefunden: Sollen die Grünen sich als bessere Regierungspartei im Wartestand präsentieren? Oder doch lieber als unnachgiebige Oppositionspartei? Für beides gibt es in der Fraktion Anhänger, aber keine breite Mehrheit.

So fühlen sich derzeit viele Grüne in einer seltsamen Zwischenwelt: Es schwelt ein unentschiedener Richtungsstreit, in dem sich die Lager belauern, aber auch nicht weiter vorwagen. Solange das der Fall ist, dürften die Bürger noch häufiger eine vielstimmige Partei zu hören bekommen.