Industriepolitik statt Marktreformen: Wie Xi Jinping Chinas Wirtschaft umbauen will
Chinas Konsum lahmt, der Immobiliensektor ist eingebrochen. Trotzdem hält Xi Jinping stoisch daran fest, die Wirtschaft nach seinen eigenen Ideen umzubauen. Und die sehen keine Konjunkturhilfen vor.
Die Treffen der Provinzdelegationen beim laufenden Nationalen Volkskongress in Peking finden nur dann größere Aufmerksamkeit, wenn Staats- und Parteichef Xi Jinping höchstpersönlich dort erscheint. So wie dieses Mal bei der Delegation der boomenden Küstenprovinz Jiangsu: Dort warnte Xi die Provinzkader vor unkontrollierter Expansion einzelner Wirtschaftsbranchen. Die von Xi selbst gewünschte Förderung „neuer Produktivkräfte“ dürfte lokal nicht zu wirtschaftlichen Blasen führen: „Wir müssen uns irrationalen, blinden Investitionen widersetzen“.
Zwar ist in China traditionell der Ministerpräsident für die Wirtschaft zuständig; Premier Li Qiang hielt am Dienstag die Eingangsrede zum Volkskongress und gab darin das Wachstumsziel von „rund fünf Prozent“ aus. Doch längst ist der eigentliche Taktgeber für die Wirtschaft Xi Jinping. Der mächtige Parteichef hat dazu institutionalisierte Strukturen und Sitzungen, die früher die Leitplanken der Wirtschaftsplanung festzurrten, schrittweise entmachtet. Stattdessen regiert er mit einem Netzwerk von Kommissionen der Kommunistischen Partei in die Ökonomie hinein.
Für Xi Jinping gilt das Primat der Nationalen Sicherheit – noch vor der Wirtschaftsentwicklung
Premier Li Qiang deutet gelegentlich an, dass er auf die private Geschäftswelt setzt, um in der aktuell schwierigen Wirtschaftslage die Erholung von Konsum, Investitionen und Aktienmarkt voranzutreiben. Und im Februar sagte Li auf einer Plenarsitzung des Staatsrats, Chinas Kabinett, Peking solle „pragmatische und wirksame Maßnahmen ergreifen, um das Vertrauen der gesamten Gesellschaft zu stärken“. Doch er gab auf derselben Sitzung zu, dass seine Aufgabe nur sei, die Politik der Partei „umzusetzen“.
Die Partei ist Xi, und für ihn steht etwas ganz anderes im Vordergrund: Die „Nationale Sicherheit“ ist dem Staatschef wichtiger als die Wirtschaft. Und für die Entwicklung einer resilienten Ökonomie schwebt Xi eine vom Parteistaat angetriebene und gesteuerte Industriepolitik etwa zur Förderung der Technologieproduktion vor – und nicht marktorientierte Reformen. Dafür hauchte Xi im September 2023 dem sozialistischen Begriff der „neuen Produktivkräfte“ neues Leben ein. Diese Kräfte, etwa der Technologiesektor, sollen die Produktivität der Gesamtwirtschaft steigern.
„Xi scheint zu glauben, dass die aktuellen Probleme die kurzfristigen Schmerzen sind, die für den langfristigen Gewinn einer sichereren und unabhängigeren Wirtschaft erforderlich sind“, schreiben Neil Thomas und Jing Qian vom Asia Society Policy Institute. Die Schmerzen, das sind ein strauchelnder Immobiliensektor, eine hohe Jugendarbeitslosigkeit, ein abgestürzter Aktienmarkt und ganz generell ein schwacher Konsum. Die Menschen halten aufgrund der schwierigen Konjunkturlage ihr Geld lieber zusammen. Xi aber zeige sich davon unbeeindruckt und beharre auf seinem Standpunkt, so die beiden Experten.

Xi ist gegen Konjunkturprogramme
Dazu gehört, dass Xi trotz der schwierigen Lage kein größeres Paket schnüren will zur Konjunkturbelebung oder auch nur zur Ankurbelung des Konsums – obwohl dies direkt für mehr Wachstum sorgen würde. Das hat auch finanzielle Gründe. Denn dafür müsste China mehr Schulden aufnehmen. Viele Kommunen aber ächzen schon jetzt unter den Schulden durch frühere Konjunkturspritzen. Kreditfinanzierte Wachstumsprogramme sind deswegen heute schwer umzusetzen und nicht mehr erwünscht.
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Ohne mehr Schulden aber gebe es auch nicht mehr Wachstum, sagt der US-Ökonom Michael Pettis: „Mittlerweile herrscht unter den Wirtschaftsberatern ein überwältigender Konsens darüber, die Steuereinnahmen direkt an die Haushalte zu verteilen“, so der China-Experte von der Denkfabrik Carnegie Endowment. Ideen dafür gibt es genug, etwa Kaufsubventionen für Autos und Haushaltselektronik. Pettis hält solche Dinge im zweiten oder dritten Quartal durchaus für möglich.
Angebotspolitik statt sozialer Ausgleich
Doch Benachteiligten direkt zu helfen, widerstrebt Xi, der eine persönliche Abneigung gegen den Sozialstaat europäischen Stils hegen soll, weil dies seiner Ansicht nach die Menschen träge macht. Alternativ bietet sich zur Steigerung von Kaufkraft und Konsum eine Erhöhung der staatlichen Mindestlöhne an, die in China regional variieren. Doch das schadet der Wettbewerbsfähigkeit des exportorientierten Landes.
All das wäre eine klassische Nachfragepolitik. Xi jedoch setze auf Angebotspolitik, beobachtet Jacob Gunter, Wirtschaftsexperte vom Chinaforschungsinstitut Merics. Obwohl sich viele Menschen derzeit mehr Hilfe vom Staat wünschten, fließe das Staatsgeld derzeit weniger zu den Haushalten oder in Infrastrukturprojekte, die Arbeitsplätze generieren – sondern auf die Angebotsseite der Wirtschaft und damit „in die Modernisierung und Expansion der Industrie“. Stichwort „neue Produktivkräfte“: Zu ihnen zählte Xi in seinen jüngsten Reden laut Thomas und Qian etwa Biotechnologie, kommerzielle Luftfahrt, digitale Wirtschaft, Drohnen, grüne Technologie, Quantencomputer oder Risikokapital. Premier Li erwähnte in seiner Rede einige Sektoren, die in den Genuss einer Förderpolitik kommen dürften: Elektromobilität, Energie- und Umwelttechnik, Digitalisierung, KI und Halbleiter.
Xis vor der Jiangsu-Delegation vorgebrachte Warnung vor Wachstumsexzessen hat derweil einen realen Hintergrund. So gibt es im Zukunftssektor Fotovoltaik so gewaltige Überkapazitäten, dass die Preise abgestürzt sind und die Hersteller deutlich unter ihren Möglichkeiten produzieren. Die Folgen waren 2023 durch eine Exportflut überzähliger Solarmodule bis nach Europa zu spüren.