Immer mehr Firmen gehen pleite. Schuldnerberater Jürgen Schäffenacker spricht im Interview über den jüngsten Anstieg der Insolvenzen.
Bad Tölz-Wolfratshausen – Studien zufolge soll es im ersten Halbjahr 2024 so viele Regelinsolvenzen wie seit zehn Jahren nicht gegeben haben. Auch Privatpersonen haben mit den deutlich gestiegenen Lebenshaltungskosten zu kämpfen. Über die Situation im Landkreis spricht der Schuldnerberater der Caritas, Jürgen Schäffenacker, im Interview mit Redakteurin Felicitas Bogner.
Herr Schäffenacker, Sie sind seit 30 Jahren Schuldnerberater bei der Caritas. Zeichnet sich der jüngste Anstieg der Unternehmens-Insolvenzen in Ihrem Arbeitsalltag schon ab?
Die Caritas kümmert sich eigentlich nur um Privatinsolvenzen, also Verbraucherinsolvenzen. Hier muss man aber unterscheiden zwischen Schuldnerberatung und Insolvenzberatung. Denn zur Schuldnerberatung kann prinzipiell jeder kommen. Und aus der Schuldnerberatung heraus entstehen dann Ideen, wie man mit der jeweiligen Situation umgeht und was man macht.
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Wenn jemand privat oder auch im Unternehmen keine finanziellen Mittel und viele Schulden hat, welche Möglichkeiten bestehen denn dann noch, außer ein Insolvenzverfahren zu eröffnen?
Hier in der Schuldnerberatung kann man eigentlich zur zwei Sachen machen. Wenn es in irgendeiner Form noch möglich ist: Schuldenregulierung. Aber wenn kein Geld da ist zum Verteilen, dann kann ich keine Schuldenregulierung angehen. Dann muss ich Schuldnerschutz betreiben. Bei der Schuldenregulierung gibt es einige Möglichkeiten. Ratenzahlungen, Vergleiche, Ratenvergleiche. Und eine finale Möglichkeit der Regulierung ist die Insolvenz.
Und bis zu diesem Punkt gehören auch Selbstständige zu Ihrer Klientel, oder?
Es ist öfter so, dass jemand erstmal als Privatperson vorstellig wird und aus dieser Schuldnerberatung heraus klar wird, dass für die bestehende Selbstständigkeit wegen Überschuldung nur noch die Möglichkeit gibt, für das Unternehmen eine Insolvenz anzumelden. Dann spricht man von einer Regelinsolvenz. An diesem Punkt trennen sich dann unsere Wege. Natürlich helfen wir dort noch, was die dann folgenden Schritte bei der Insolvenzbeantragung betrifft. Was bei mir bleibt, sind Leute, die entweder nie selbstständig waren oder Leute, die ehemals selbstständig waren und nicht mehr als 19 Gläubiger haben und/oder keine offenen Forderungen aus ehemaligen Mitarbeiterverhältnissen haben.
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Den neusten Studien zufolge sind im letzten halben Jahr die Regelinsolvenzen in die Höhe geschossen. Beobachten Sie das auch hier?
Ich finde, dass man das mit Vorsicht betrachten sollte. Klar, sind die Zahlen im Vergleich zu den letzten drei Jahren nach oben gegangen. Schaut man weiter zurück, gab es schon mal deutlich mehr Insolvenzen. 2023 lag die Zahl der eröffneten Insolvenzverfahren bei 101 429, darunter knapp 18 000 Unternehmensinsolvenzen. 2013 beispielsweise gab es 129 269 eröffnete Insolvenzverfahren mit knapp 26 000 Unternehmensinsolvenzen. Der deutschlandweite Trend schlägt sich natürlich auch hier immer nieder. Wobei wir hier im Landkreis und eigentlich in ganz Oberbayern diesbezüglich immer noch auf der Insel der Glückseligen leben. Schon alleine wegen der niedrigen Arbeitslosenquote.
Sie haben hier in der Region also noch nicht so viel vom jüngsten Anstieg mitbekommen?
Bisher eher nicht. Ich gehe aber davon aus, dass das noch kommt. Trotzdem darf man dabei nicht vergessen, dass wir nicht mehr Kapazitäten als sonst haben. Wir bekommen also nicht unbedingt mehr Klienten. Sondern die Warteliste wird länger werden. Sobald das passiert und man keinen zeitnahen Termin vereinbaren kann, springen wieder einige von der Warteliste ab. Die suchen sich in der Zwischenzeit andere Lösungsmöglichkeiten. Daher ist es sehr schwierig, die Entwicklung hier in absoluten Zahlen zu messen. Im Durchschnitt haben wir hier circa 650 Klienten in der Schuldnerberatung pro Jahr.
Auf was führen Sie die jüngste Welle an Regelinsolvenzen zurück?
Da gibt es mehrere Gründe. Wichtig zu beachten ist, dass nun viele Insolvenzen kommen, die in der Coronazeit mit den Hilfen noch durchgekommen sind. Mit dem Zurückzahlen der Corona-Hilfen hat es dann vielen das Genick gebrochen. Mit reinzählt aber auch, dass in der Coronazeit die Insolvenzantragspflicht zeitweise ausgesetzt war. Das bekommen wir nun eben alles zeitverzögert zu spüren. Und genau deswegen sind in der Coronazeit die Zahlen zunächst runtergegangen, weswegen der Anstieg nun prozentual recht dramatisch aussieht.
Es hat also neben den gestiegenen Kosten für Lebenshaltung privat und Energie in vielen Unternehmen auch ganz viel mit Nachwirkungen der Coronazeit zu tun.
Auf jeden Fall. Dazu gibt es auch viele Firmen, die sich nach Corona nie wieder erholt haben. Weil die Kunden einfach weg waren. Und viele Kunden kommen nicht mehr zurück, sobald sie sich eine Zeit lang anders orientiert haben.
Wieso gehen Sie davon aus, dass man den aktuellen Trend in Zukunft hier noch deutlicher spüren wird?
Es wird Selbstständigen bürokratisch viel zu schwer gemacht. Die Energiekosten sind zu hoch. Die Lohnnebenkosten sind zu hoch. Wenn man diesen Trend stoppen will, muss dringend die Politik umdenken. Und in manchen anderen Berufen haben wir natürlich das Problem, dass die Leute viel zu wenig verdienen, mit Blick auf die Wohnkosten in der Region. Eine Bäckereifachverkäuferin in Vollzeit, mit circa 1400 Euro netto, wie soll die denn am Ende des Monats hinkommen? Die wird kaum in der Lage sein, Schulden zu bedienen und gleichzeitig Rücklagen zu bilden. Im Leben passieren ständig unvorhersehbare Dinge. Ohne Rücklagen ist man schnell in der Schuldenspirale gefangen.
Was müsste sich ändern?
Es gibt genug Berufe, in denen der Mindestlohn zu niedrig ist. Wir brauchen hier unter 15 Euro pro Stunde nicht zu diskutieren. Und da sind wir an dem Punkt, dass es sich in Deutschland wieder für jeden lohnen muss, arbeiten zu gehen. Es muss einen klaren Einkommensunterschied zu Beziehern von Sozialleistungen geben. Parallel muss die Politik die Selbstständigen, die ja ins Risiko gehen und Arbeitsplätze schaffen, unterstützen, indem man Verwaltungskram reduziert, Steuergesetzgebung vereinfacht oder Existenzgründer generell besser vorbereitet.