Bis zu sieben Milliarden Euro: Wie Merz beim Bürgergeld sparen könnte

Wenn in den Medien vom Bürgergeld (bald heißt es Grundsicherungsgesetz) die Rede ist, dann wird meistens über Arbeitslose geredet. Dabei machen diese nur eine Minderheit aller Empfänger aus. Neben Kindern und Jugendlichen gibt es auch rund 813.000 Personen, die eigentlich einen Job haben, aber trotzdem Bürgergeld bekommen. Aufstocker werden diese genannt, eben, weil sie ihr Arbeitsgehalt mit Bürgergeld aufstocken müssen, um mindestens das gesetzlich festgelegte Existenzminimum zu erreichen. 

Allein dies kostet den deutschen Staat jährlich rund sieben Milliarden Euro. Hinzu kommt eine Dunkelziffer. Die Ernst-Abbe-Hochschule aus Jena veröffentlichte 2023 eine Studie, in der sie schätzt, dass rund 35 bis 40 Prozent aller Anspruchsberechtigten von Sozialleistungen insgesamt diese nicht beantragen. Auf die Zahl der Aufstocker übertragen, wären das 440.000 bis 540.000 Menschen.

Unter diesen Bedingungen haben Sie Anspruch auf aufstockendes Bürgergeld

Jeder Mensch in Deutschland hat Anspruch auf ein Existenzminimum. Das hat allerdings keine einheitliche Höhe, sondern ist von ihrem Wohnort und Lebensumständen abhängig. Für alle Erwachsenen gilt der Bürgergeld-Regelsatz von 563 Euro. Hinzu kommen Kosten für eine angemessene Unterkunft und Heizung. „Angemessen“ ist dabei kein genau definierter Begriff. Für einen Alleinlebenden wird aber meist eine Wohnung von bis zu 50 Quadratmetern Größe zur durchschnittlichen Miete am jeweiligen Ort genehmigt.

Ein Rechenbeispiel: Wenn Sie etwa in Leipzig wohnen, dessen Miete sehr nah am bundesdeutschen Durchschnitt liegt, dann läge Ihr Existenzminimum bei 563 Euro Regelsatz und 629 Euro Miete für 50 Quadratmeter Wohnraum inklusive Heizung, zusammen also 1192 Euro.

Bruttoeinkommen wird angerechnet

Dagegen wird nun Ihr Bruttoeinkommen angerechnet, allerdings in sehr komplizierter Weise. Die ersten 100 Euro zählen nicht hinzu, vom Einkommen zwischen 100 und 520 Euro werden 20 Prozent herausgerechnet, vom Einkommen zwischen 521 und 1000 Euro 30 Prozent und vom Einkommen zwischen 1000 und 1200 Euro bei Kinderlosen weitere 10 Prozentpunkte. Nehmen wir also an, Sie verdienen in Leipzig mit Ihrem Job 1200 Euro brutto im Monat, dann bekämen Sie den maximalen Freibetrag von 384 Euro. Diese würden von Ihrem Nettoeinkommen von 938 Euro abgezogen, Ihr anrechenbares Einkommen läge also bei 554 Euro.

Weil das deutlich unter dem Existenzminimum von 1192 Euro pro Monat liegt, könnten Sie also aufstockendes Bürgergeld beantragen und würden 638 Euro pro Monat vom Staat bekommen. Das ist ein vereinfachtes Beispiel für einen Alleinlebenden, je nach Lebensumständen kann die Berechnung wesentlich komplizierter sein.

Das sind die Menschen, die aufstockendes Bürgergeld bekommen

Wer bei unserem Rechenbeispiel schon mit der Stirn runzelt und sich fragt, wer denn nur 1200 Euro brutto mit einem Vollzeitjob verdient, wo man mit Mindestlohn doch bereits auf mehr als 2200 Euro pro Monat kommt, der hat den ersten Hinweise, welche Menschen vermehrt aufstockendes Bürgergeld erhalten. „Die meisten sind teilzeit- oder geringfügig beschäftigt und bessern ihr Bürgergeld mit einer Tätigkeit in geringem Umfang etwas auf“, sagt Holger Schäfer vom Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) in einer Kurzanalyse aus dem August. Nur rund ein Zehntel der rund 800.000 Aufstocker haben einen Vollzeitjob. Dass bei diesen das Gehalt nicht ausreicht, liegt zumeist daran, dass sie in Haushalten mit Kindern leben und so das benötigte Budget wesentlich höher ist. Nur 16.000 Aufstocker mit Vollzeitjob sind alleinstehend.

Das bedeutet im Umkehrschluss, dass die große Mehrheit der Aufstocker nur in Teilzeit arbeitet. Als besonders gefährdet gelten dabei Alleinerziehende. Eine Langzeitstudie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsfeldforschung (IAB) von 2010 bis 2018 führte zutage, dass Menschen, die eines oder mehrere Kinder allein erziehen, am stärksten davon betroffen sind, ihr Gehalt aufstocken zu müssen. Das hat mehrere Gründe: Erstens können diese zeitlich meist nur einen Teilzeitjob ausüben, zweitens sind diese oft schlechter bezahlt als Vollzeitjobs und drittens haben Alleinerziehenden-Haushalte aufgrund der Kinder höhere Kosten. Sie brauchen eine größere Wohnung, mehr Heizung, mehr Nahrung, mehr Kleidung. So sind Alleinerziehende auch generell laut IAB trotz Jobs am stärksten von Armut bedroht.

Bis vergangenes Jahr sank die Zahl der Aufstocker

Das Phänomen der Aufstocker ist nicht neu und nicht Bürgergeld-spezifisch. Es gab sie auch schon im alten Hartz-IV-System. Ihre Zahl sank aber über die Jahre stetig. Stockten 2010 noch rund 1,4 Millionen Menschen ihr Gehalt mit Sozialleistungen auf, waren es 2023 nur noch knapp unter 800.000. Von dort stieg die Zahl im Vorjahr aber wieder an und liegt eben auch aktuell mit 813.000 Menschen höher als zuvor. Das IW Köln hat die Zahlen zum Anstieg analysiert und stellt die These auf, dass dies tatsächlich etwas Positives sein könnte.

So zeigt sich, dass es vor allem Ausländer sind, die für den Anstieg der Aufstocker-Zahlen gesorgt habe. Fast 35.000 Nicht-Deutsche mehr als im Vorjahr stockten 2024 ihr Gehalt mit Bürgergeld auf, während die Zahl bei Deutschen um etwa 12.000 Personen sank. Die gleiche Tendenz zeigt sich bei den Zahlen für Aufstocker in Vollzeit- und Teilzeitjobs. Lediglich bei den Auszubildenden stieg die Zahl der Aufstocker – unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit – gleichermaßen. „Eine Erklärung für den Befund wäre, dass es 2024 in größerem Maße gelungen ist, Zuwanderer in den Arbeitsmarkt zu integrieren“, sagt Schäfer. Allerdings müsste diese These noch einmal genauer untersucht werden. „Sollte sie sich bestätigen, würde der Anstieg kein sozialpolitisches Problem, sondern einen arbeitsmarktpolitischen Erfolg reflektieren.“

Werden mit aufstockendem Bürgergeld Niedriglöhne subventioniert?

Ein langes Debattenthema in der Forschung ist, ob aufstockende Sozialleistungen wie früher Hartz IV und jetzt Bürgergeld (und bald Grundsicherungsgesetz) eine versteckte Subvention für Unternehmen sind. Auf der Pro-Seite dieser Diskussion stehen vor allem Gewerkschaften und Sozialverbände. „Hartz-IV-Leistungen wirken auf diese Weise wie ein unbefristeter Lohnkostenzuschuss, der dann besonders hoch ist, wenn die Unternehmen niedrige Löhne zahlen“, kritisierte der Deutsche Gewerkschaftsbund bereits 2012 in Bezug auf Aufstocker. „‘Arm trotz Arbeit‘ ist derzeit kein Randphänomen“, ergänzte der DGB in einer Stellungnahme für die Mindestlohn-Kommission 2023. Die Logik: Solange der Staat einspringt, müssten Unternehmen keine Löhne zahlen, die ihre Mitarbeiter vor Armut schützten.

Ökonomen sehen das differenzierter. Die meisten würden bestreiten, dass aufstockendes Bürgergeld eine direkte Subvention für Niedriglöhne in Unternehmen ist. „Es sind Zweifel angebracht, ob die Entwicklung der Anzahl der Aufstocker in einem engen Zusammenhang zur Lohnhöhe steht“, sagt Schäfer. Aber: „Faktisch wirkt die Grundsicherung als Subvention für den Niedriglohnsektor“, urteilte das Institut Arbeit und Qualifikation (IAQ) schon 2011. Die Forscher sehen das Problem dabei auf beiden Seiten: Weil von einer Vollzeitstelle prozentual mehr Lohn auf das Bürgergeld angerechnet wird, haben Empfänger wenig Anreize, sich hochzuarbeiten.

Umgekehrt können sich aber auch Unternehmen darauf verlassen, dass der Staat niedrige Teilzeitlöhne ausgleicht und haben somit keinen Druck, Löhne zu erhöhen. Da sich durch das Aufstocken die Anzahl derjenigen erhöht, die bereit sind, in Teilzeit zu arbeiten, finden Firmen noch genug Mitarbeiter zu geringen Löhnen. Gäbe es die Aufstockung nicht, würden viele Bürgergeld-Empfänger gar nicht arbeiten und Unternehmen müssten entsprechend die Löhne erhöhen, um sie dazu zu motivieren.

So ließe sich die Zahl der Aufstocker reduzieren

Bei der Frage, wie es weitergehen könnte, sind zwei Dimensionen zu berücksichtigen. Die eine ist, dass mehr Aufstocker nicht zwingend schlecht sind, wenn ihre Zahl dadurch wächst, dass zuvor arbeitslose Menschen zumindest eine Teilzeitstelle bekommen. Dadurch spart der Staat am Ende Geld.

Die zweite ist, dass der Staat aber auch ein Interesse daran haben sollte, möglichst viele Aufstocker in Jobs zu vermitteln, in denen sie eben ihr Gehalt nicht mehr aufstocken müssen, weil sie genug verdienen. Die Maßnahmen dafür wären dieselben, die Ökonomen schon seit Jahren fordern. 

Kinderbetreuung müsste kostenlos sein

Auf der einen Seite müsste etwa das Sozialsystem so überarbeitet werden, dass Menschen mit mehr Gehalt auch immer mehr von ihren Einkommen bleibt – sich Mehrarbeit für Bürgergeld-Empfänger also stärker lohnt. Dafür müssten Sozialleistungen wie Bürgergeld, Wohngeld und Kinderzuschuss besser aufeinander abgestimmt werden und die Transferentzugsraten überarbeitet werden.

Auf der anderen Seite müsste die Kinderbetreuung in Deutschland nicht nur ausgebaut, sondern auch weitgehend kostenlos gestellt werden. Damit könnten dann junge Mütter und vor allem Alleinerziehende häufiger Vollzeitjobs annehmen und so mehr Geld verdienen. Das würde sie zum einen aus der Armut und dem Bürgergeld herausheben und wäre damit individuell gut, es würde aber auch den Staat netto entlasten.