Empörung in BaWü - „Sprengt alle Maßstäbe“: Kilian soll doppelt Grundsteuer für Wucher-Brache zahlen
Als der Bescheid in seinen Briefkasten flatterte, dachte Kilian Frisch noch an einen Zahlendreher. Für sein Grundstück nahe der Kläranlage in Kirchberg an der Murr, eine von Gestrüpp und Brombeerdornen überwucherte Brache, sollte künftig ein Hebesatz von 730 statt von 370 Prozentpunkten gelten.
Kilian soll doppelte Grundsteuer für Wucher-Grundstück zahlen
„Fehler vom Amt“ sagte sich der weder mit einem grünen Daumen noch mit einem dicken Geldbeutel gesegnete Grundsteuerzahler und wollte das Schreiben der Gemeinde schon zu den Akten legen – bis der Blick auf den unten stehenden Rechnungsbetrag fiel.
Tatsächlich hat sich mit dem Hebesatz über Nacht auch die für das ungenutzte Grundstück ans Kirchberger Rathaus zu zahlende Summe fast verdoppelt. An den Bettelstab bringt die Erhöhung den überraschten Besitzer wegen der nur geringen Quadratmeterzahl zwar nicht.
„Dann will keiner mehr eine Streuobstwiese haben“
Doch Kilian Frisch (Name geändert) fragt sich schon, weshalb ihn die aus seiner Sicht reichlich wertlose Fläche plötzlich mehr kosten soll.
„Wenn die Leute erst mal realisiert haben, wie viel sie für ihre geerbten Stückle zahlen müssen, will keiner mehr eine Streuobstwiese haben“, prophezeit er.
Grundstückbesitzer spricht von „schleichenden Enteignung“
Von einer „schleichenden Enteignung“ spricht auch Steffen Kögel aus Winnenden. Vier Grundstücke finden sich in seinem Besitz, zwei Doppelhaushälften und zwei Wiesen. Bisher lag die Grundsteuer für das Quartett gerade noch so im dreistelligen Bereich, etwas mehr als 950 Euro musste der Leser für das ihm gehörende Land zahlen.
Jetzt ist das Vierfache fällig, der Alt-Neu-Vergleich spuckt eine Summe von über 4200 Euro aus. „Das kann ich nicht mehr darstellen“, schreibt der Winnender in einer Mail an die Redaktion – und wundert sich, dass er nicht nur bei den bebauten, sondern auch bei den unbebauten Flächen mit einer Erhöhung rechnen muss.
„Meine Mieter freuen sich schon auf die neue Nebenkostenpauschale“
Im Rems-Murr-Kreis sind derartige Kostensprünge kein Einzelfall. In Fellbach beispielsweise hat Michael Deufel einen mehr als fünfmal so hohen Grundsteuerbescheid bekommen, statt bisher 335 Euro will die Stadt künftig 1880 Euro von ihm sehen.
„Meine Mieter freuen sich schon auf die neue Nebenkostenpauschale“, sagt er über die Zusatzbelastung. Das Diskussionsforum in der Kappelberg-Gruppe auf Facebook ist voll von Beispielen über exorbitant in die Höhe geschossene Steuerforderungen.
Verfünffachung der Steuerlast keine Seltenheit
Horrorzahlen werden etwa aus dem „Komponistenviertel“ mit seinen nach Tonkünstlern von Mozart bis Haydn benannten Straßen gemeldet.
Eine Verfünffachung der Steuerlast ist keine Seltenheit, die Ende Januar von der Stadt Fellbach verschickten Bescheide haben bei vielen Hausbesitzern schockähnliche Zustände ausgelöst.
„Das hier sprengt alle Maßstäbe“
„Ich bin mir durchaus bewusst, dass der bisherige Betrag für diese sehr gute Wohnlage eigentlich zu niedrig war. Für eine Verdoppelung oder auch noch etwas mehr hätte ich durchaus Verständnis gehabt. Aber das hier sprengt alle Maßstäbe“, fasst ein Betroffener seine Empörung in Worte.
Der Leser bekennt, dass er glücklicherweise mit der Bestellung einer knapp 30 000 Euro teuren Photovoltaik-Anlage für sein Hausdach noch zugewartet hat, ob die böse Vorahnung bei der Grundsteuer auch Wirklichkeit wird. Jetzt hat die Kostensteigerung dem privaten Umweltprojekt den Garaus gemacht – nach dem Steueraufschlag ist kein Geld mehr für die Energiewende da.
Unternehmen profitieren
Allerdings: Nicht alle Grundstücke sind teurer geworden, kreisweit dürfen sich viele Bürgerinnen und Bürger auch über eine niedriger werdende Steuerbelastung freuen. „Tendenziell ist es so, dass die Grundsteuer bei Ein- und Zweifamilienhäusern mit größeren Gärten steigt und bei Wohnungen in Mehrfamilienhäusern mit kleinem Grundstück sinkt“, sagt die Fellbacher Rathaussprecherin Sabine Laartz.
Auch viele Unternehmen profitieren nach ihrer Darstellung von der Grundsteuerreform, weil die Bodenrichtwerte für Gewerbegebiete typischerweise weit unter denen von Wohngebieten liegen.
Bewusst habe sich die Stadt Fellbach entschieden, darauf legt die auch als OB-Referentin fungierende Sprecherin großen Wert, dass die Grundsteuerreform aufkommensneutral umgesetzt wird. Unterm Strich nimmt Fellbach auch mit der neuen Berechnung nicht mehr ein als in den vergangenen Jahren.
Da allerdings die Bodenrichtwerte in der Region Stuttgart insgesamt sehr hoch sind, war abzusehen, dass größere Grundstücke mit wenig bebauter Fläche stärker belastet werden als bisher.
Landtagsabgeordneter spricht von „Grundsteuer-Debakel“
„Das kleine alte Backsteinhäuschen der Oma wird wegen des Gemüsegartens deutlich höher besteuert als die neu hingeklotzte Villa“, ätzt der liberale Landtagsabgeordnete Jochen Haußmann aus Kernen.
Er spricht wie seine Waiblinger Fraktionskollegin Julia Goll von einem Grundsteuer-Debakel. „Gemeinderäte und Bürgermeister sollen jetzt ausbaden, was die Landesregierung mit ihrem deutschlandweit einzigartigen Modell verbockt hat“, kritisieren sie die in Baden-Württemberg allein am Bodenwert orientierte Festsetzung. Außerdem räche es sich bitter, dass die grün-schwarze Landesregierung auf eine Härtefallklausel und auch auf eine Ombudsstelle verzichtet habe.
Bei den Auswirkungen im Blindflug unterwegs
Auch die Backnanger SPD-Landtagsabgeordnete Simone Kirschbaum spricht von einem Schock durch die reformierte Grundsteuer. „Vor allem in Städten wie Backnang, wo ohnehin der Wohnraum knapp und teuer ist, bedeutet das eine inakzeptable Mehrbelastung“, kritisiert die Nachfolgerin von Gernot Gruber.
Ein wertabhängiges Modell, wie es der Bund vorsieht, wäre aus ihrer Sicht deutlich gerechter, weil es auch das Alter und den Zustand einer Immobilie berücksichtige und eine fairere verteilte Belastung für Eigentümer und Mieter ermögliche.
Dabei wissen gar nicht alle Kommunen, ob sie das Versprechen einer aufkommensneutralen Besteuerung denn auch erreichen. Die Stadt Fellbach beispielsweise kann nach eigener Darstellung momentan nicht sagen, bei wie vielen Bürgern es billiger wird und wie viele Menschen tiefer in die Tasche greifen müssen.
„Für die Auswertung müssten wir die alten mit den neuen Grundsteuerbescheiden vergleichen – dies ist momentan auch nicht stichprobenartig möglich“, heißt es auf die Anfrage unserer Redaktion.
Klage gegen Bewertung von Grundstücken
Weniger im Blindflug unterwegs ist beispielsweise Schorndorf, im Remstal ist der Druck aufs entsprechende Knöpfchen kein Problem: Laut Stadtsprecher Dominique Wehrle steigt die Grundsteuer in 8373 Fällen. Etwas mehr Bürger werden nach der neuen Berechnung entlastet – in immerhin 10 618 Bescheiden sinkt die Steuerbelastung.
Kostspielig kann es freilich auch sein, einen Einspruch gegen den Messbescheid einzulegen und ein eigenes Gutachten zur Wertermittlung in Auftrag zu geben. Für eine detaillierte Untersuchung werden durchaus vierstellige Summen aufgerufen – ob sich das lohnt, ist eine Abwägungsfrage.
Der Bund der Steuerzahler hat gemeinsam mit Eigentümerverbänden unter anderem gegen die Bewertung großer und ungewöhnlich langer Wohnbaugrundstücke geklagt. Eine Musterklage richtete sich gegen die Bodenrichtwerte bei großen Gärten.
Das Finanzgericht hat die Klage abgewiesen, die Verbändeallianz zieht nun vor den Bundesfinanzhof. Bis eine Entscheidung fällt, könnten aber noch Jahre vergehen, sagt eine Sprecherin.
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Von Sascha Schmierer
Das Original zu diesem Beitrag "Empörung über Grundsteuer-Aufschlag: „Das hier sprengt alle Maßstäbe“" stammt von Stuttgarter Zeitung.